Helmut Lauschke

Unvergessene Jahre


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      Helmut Lauschke

      Unvergessene Jahre

      Erzählungen

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Unvergessene Jahre

       Alfred Lehmann, gelernter Maurer

       Kurt Götz, der Literat

       Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, ehemaliger Superintendent von Breslau

       Drei Heimkehrer

       Aus einem Brief

       Impressum neobooks

      Unvergessene Jahre

      Erzählungen

      Die Namen der Personen sind geändert.

       Er spielte einen Satz aus dem Beethoven-Konzert. Nie hatte ich so reine Töne vernommen. Und in solcher Stille!

       Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Ich hörte nur die Geige, und es war, als diene Julieks Seele als Bogen. Er spielte sein Leben. Sein ganzes Leben glitt über die Saiten. Seine begrabene Hoffnung. Seine veraschte Vergangenheit, seine erloschene Zukunft. Er spielte, was er nie mehr spielen würde.

       Ich werde Juliek nie vergessen. Wie könnte ich ein Konzert vergessen, das vor Sterbenden und Toten gegeben wurde! Noch heute, wenn ich Beethoven höre, schließen sich meine Augen, und der Dunkelheit entsteigt das bleiche traurige Antlitz meines polnischen Kameraden, der von einer Hörerschaft Sterbender Abschied auf der Geige nahm.

       (Nach dem langen Marsch der ausgezehrten Häftlinge durch die Nacht bei dichtem Schneefall von Auschwitz nach Gleiwitz wegen Evakuierung des Lagers vor Ankunft der Roten Armee)

       Elie Wiesel: “Die Nacht zu begraben, Elischa”

      Alfred Lehmann, gelernter Maurer

      Es war ein regnerischer Dienstagmorgen, als Alfred Lehmann aus dem Fenster seiner Dachwohnung auf die Straße blickte und den Berufsverkehr mit den Autos, Bussen, Motorrädern, Fahrrädern und Fußgängern verfolgte. Er hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Die Rückenschmerzen hatten ihn geplagt, die er sich in seinem Beruf als Maurer zugezogen hatte und sich deshalb vorzeitig in Rente schicken ließ. Der Arzt sprach von Verschleiß der Wirbelsäule, wogegen medizinisch außer Schmerztabletten kein Kraut gewachsen sei. Da die Tabletten ausgegangen waren, wollte er an diesem Morgen zu seinem Arzt Dr. Brettschneider gehen, um sich neue Tabletten verschreiben zu lassen. Ein Telefon konnte er sich bei der kleinen Rente nicht leisten, dass er telefonisch einen Termin mit der Sprechstundenhilfe vereinbart hätte.

      Alfred Lehmann war dreiundsechzig, mittelgroß und schlank. Sein Gesicht hatte sich die frühen Falten zugelegt, und die Haut hatte den leichten Graustich des vorzeitigen Alterns. Die Hände waren derb und verarbeitet. An beiden Händen waren Verletzungsfolgen zurückgeblieben. So fehlten an der rechten Hand die Endglieder des dritten und vierten Fingers, und an der linken Hand fehlte das Endglied des Daumens. Als Kind hatte er das linke Schlüsselbein und als Jugendlicher bei einem Motorradunfall einige Rippen am linken Brustkorb gebrochen. Er war Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrpott mit vier anderen Brüdern und einer Schwester. Der Vater war mit sechsundfünfzig wegen einer Asbestose invalidisiert worden and mit einundsechzig verstorben. Die Mutter war an einem spät erkannten und nicht mehr heilbaren Brustkrebs verstorben, als er dreizehn war. Bei ihr hatte der Krebs auch zu Rückenschmerzen und zu einer ‘pathologischen’, so sagte es jedenfalls der Arzt, Oberschenkelfraktur am rechten Bein geführt. Der Vater hatte ein zweites Mal geheiratet. Aus dieser Ehe gingen zwei seiner jüngeren Brüder und seine Schwester hervor. Mit seiner Stiefmutter, die seines Erachtens viel zu jung für den Vater war, als er bereits in the Enddreißigern war, hatte er nie eine herzliche Beziehung aufbauen können. Die Situation hatte sich dermaßen zugespitzt, dass er die mittlere Reife sausen ließ und die Schule und das väterliche Haus, was eine Vierzimmerwohung im zweiten Obergeschoss war, verließ. Er ging in die Lehre als Maurer und lebte die Lehrlingsjahre in der Wohnung seines Onkels Gustav am anderen Stadtende, zu dem er ein herzliches Verhältnis hatte. Tante Emmi war einige Jahre älter als Onkel Gustav, die ihn, weil sie selbst keine Kinder hatten, wie einen Sohn aufnahm, bekochte und die Wäsche wusch. Onkel Gustav war einige Jahre jünger als der Vater und arbeitete als Vormann in einer Maschinenfabrik.

      Alfred Lehmann war von seiner sechs Jahre jüngeren Frau Emilie seit mehr als zehn Jahren geschieden. Aus der Ehe, die seit weiteren zehn Jahren vorher nicht mehr stimmte, gingen die beiden Söhne Gerhard und Kurt hervor. Für die eheliche Verstimmung gab es zwei Gründe: einmal war es der Alkohol, den er mit jungen Jahren in der Stammkneipe konsumierte und häufiger als erlaubt betrunken nach Hause kam, und dann waren es die Perioden der Arbeitslosigkeit vor allem in den Wintermonaten, als das Geld knapp wurde und die Strom- und Wasserrechnungen verspätet gezahlt wurden. Einige Male kam der Mann von der Stadtverwaltung, nachdem die Mahnbescheide nicht pünktlich befolgt wurden, und drehte den Haupthahn zu, knipste die Hauptsicherung aus und plombierte den zugedrehten Wasserhahn und den verschlossenen Sicherungskasten. Das war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war, was aber nie eindeutig bewiesen wurde, dass Emilie eine Affäre mit einem Mann hatte, der etwa in seinem Alter war, aber um etliches besser aussah, ja attraktiv war. Emilie ging dieser Affäre für mehr als einem Jahr nach besonders dann, wenn Alfred in einer anderen Stadt zu mauern hatte und dort in der Betriebsbaracke übernachtete, oder mit großer Regelmäßigkeit in der Stammkneipe saß, den Alkohol konsumierte und spät, was oft erst nach Mitternacht war, zurückkam.

      Die beiden Söhne Gerhard und Kurt gingen früh aus dem Haus, Gerhard als Zimmermann mit dem Gesellenbrief und Kurt, nachdem er sich zur Volksarmee gemeldet hatte. Gerhard hatte früh geheiratet und einen Sohn und eine Tochter. Doch auch seine Ehe wurde nach drei Jahren geschieden. Die geschiedene Frau nahm die Tochter Amalie mit, und der Sohn Andreas blieb beim Vater, der seit fünf Jahren die Frauen wie ein Hemd wechselte, das meist kürzer als ein Jahr, in einem Fall waren es anderthalb Jahre, ‘getragen’ oder als Frau ertragen wurde. Dabei waren die Frauen nicht immer passiv, dass einige von sich aus das Handtuch warfen und Gerhard verließen. Kurt, der vier Jahre jüngere Bruder, der zur Volksarmee eingezogen und zu Grenzwachen zunächst an der deutsch-polnischen Friedensgrenze, dann an der deutsch-deutschen Grenze im Süden der Republik nach Bayern hin und schließlich zur Bewachung der Küste und Küstengewässer gegen feindliche Objekte eingesetzt war, ist unverheiratet geblieben. Beide Söhne haben es beruflich zu etwas gebracht: Gerhard ist zweiter technischer Abteilungsleiter in der VEB-Möbelfabrik ‘Tisch und Stuhl’ im Bezirk Erfurt, und Kurt hat es aufgrund seiner sportlichen und militärischen Leistungen bei gleichbleibender Linientreue nach siebzehn Jahren Volksarmee zum Fregattenkapitän gebracht, was dem Rang eines Oberstleutnant entspricht. Er hat als junger Soldat gemeinsam mit den sozialistischen Waffenbrüdern an der Niederwerfung des Prager Aufstandes, der später der Prager Frühling genannt wurde, teilgenommen. Diese Teilnahme dürfte seine ‘sozialistisch-patriotische’ Haltung erneut unter Beweis gestellt und zur steilen