Nadja Harsch

Tod, Leben und dazwischen


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      Das Pfeifen in der Stille

      Schon als Kind hatte ich gewusst, dass mich keiner haben wollte.

      Elena schluckte. Sie saß auf dem Dachboden eines Hauses, das bereits um 1900 erbaut wurde. Bei jeder Bewegung knarrten die Holzdielen unter ihr; es roch feucht und modrig und der herbstliche Wind, der draußen auf der Straße goldgelbe Blätter umherwirbelte, zischte durch jede Rinne und Ritze des undichten Daches.

      Vor gut einer Stunde war Elena die schmale ausklappbare Treppe zum Speicher hinaufgeklettert, um verstaubte Umzugskartons auszumisten. Dabei hatte sie sie entdeckt: Die Briefe, von denen einer nun in ihrer Hand zitterte.

      Eine schwarz verblasste Schleife hatte die Umschläge aneinandergehalten, auf dessen Vorderseiten der Verfasser jeweils lediglich eine Zahl zwischen eins und fünf notiert hatte; einen Absender oder Adressaten gab es nicht. Elena hatte das Band behutsam aufgezogen und vier Briefe neben sich auf den Boden gelegt; den mit der Ziffer eins darauf hatte sie in der Hand behalten und schließlich geöffnet. Eine kleine krakelige Handschrift war auf einen einzigen vergilbten Blatt Papier zum Vorschein gekommen. "Die sind ja ... von Michael!", hatte Elena gemurmelt und den Brief zunächst zu den anderen auf den Boden gelegt. Von der Seite her hatte sie ihn betrachtet, die Brauen aneinanderziehend. Sie hatte gezögert. Durfte sie diese Briefe lesen? Doch, Elena hatte den Kopf geschüttelt, sie konnte nicht anders. So hatte sie den Brief wieder in die Hände genommen, sich gegen einen Stützbalken gelehnt und flüsternd zu lesen begonnen.

      Nun saß sie da, das zitternde Papier in ihrer Hand betrachtend. Noch einmal überflog sie den ersten Satz, ehe sie leise weiterlas:

      Zunächst war es lediglich ein Gefühl, das sich immer mehr in meiner schmerzenden Brust ausbreitete. Doch irgendwann, es war ein kalter Tag im Dezember, kurz vor Weihnachten, wurde aus meinem Gefühl bittere Realität. Meine Eltern stritten sich an diesem Tag, wie so viele Male zuvor, da hörte ich es eindeutig: Dass ich ein Unfall war, den meine Eltern nie auf der Rechnung hatten. Wegmachen war damals nicht mehr möglich gewesen, da meine Mutter mich erst bemerkt hatte, als es fürs Wegmachen schon zu spät war. Zunächst begriff ich gar nicht. Doch mein Bruder, der vier Jahre älter ist als ich und der mich offenbar ebenfalls nicht hat haben wollen, hat mir - und das nicht gerade zimperlich - erklärt, was das zu bedeuten hatte ...

      Elena ließ den Brief in ihren Schoß sinken und blies Luft durch zitternde Lippen. Sie lauschte einen Moment mit geschlossenen Augen dem pfeifenden Wind, der nicht nur draußen sein Unwesen trieb; dann las sie weiter:

      Kein Wunder verachteten mich meine Eltern. Schließlich war ich nur ein Störfaktor, der nervte und Geld kostete. Stets warfen sie mir an den Kopf, was sie alles an mir hassten. Da gab es nichts, nicht einmal einen Hauch von etwas, das sie zu mögen schienen ...

      Irgendwann kam dann die Schule. Zunächst war ich froh, endlich einmal raus zu kommen aus dieser Hölle. Doch dann? Was soll ich sagen? Schule war scheiße!

      Alle hänselten mich immer und überall. Wegen meines ungepflegten, schlampigen Aussehens. Wegen meiner ungeschnittenen Haare. Meinem Sprachfehler, einem leichten Stottern; wegen meinem Geruch. In die Mülltonne steckten sie mich, schmierten meinen Stuhl mit Farbe oder Kleber voll, halfen mir nicht, wenn ich vom Klettergerüst zu fallen drohte. Wenn ich dann noch stinkender als ohnehin nach Hause kam, mit beschmutzter klebriger Hose oder blauen Flecken, verprügelte mich mein Vater zur Strafe mit seinem Ledergürtel, der breit war und lang und eine große, silberne, zerkratzte Schnalle hatte. Immer gebückter ging ich damals, immer weniger redete ich, immer mehr nahm ich zu. Und mit jedem Kilo, das ich mehr an Leid mit mir herumtrug, wurde es schlimmer. Fette Sau, Stinkbombe, Schwabbelarsch und Hängetitte riefen sie mich. Irgendwann ging ich gar nicht mehr raus, verkroch mich in einem Zuhause, das doch auch nicht besser war.

      An dieser Stelle endete Brief Nr. 1. Elena betrachtete ihn noch einen Moment lang, ehe sie ihn auf den Boden legte und nach Nr. 2 griff. Sie öffnete diesen jedoch nicht sofort, sondern hielt ihn mit beiden Händen fest umklammert, vielleicht, weil sie ahnte, was in ihm stand. Doch sie wusste: Ihn nicht zu lesen änderte überhaupt nichts. Daher atmete sie tief ein, tief aus, holte das gelbliche Papier hervor und flüsterte weiter:

      Irgendwann schoss er mir einfach in den Kopf: Der Gedanke daran, mir das Leben zu nehmen. Anfangs war es nur eine fixe Idee. In bunten Farbe malte ich mir aus, wie es es wohl sein würde, sterben zu dürfen. Dabei sah ich mich selbst, wie ich in den Himmel flog und liebevoll empfangen wurde. Hübsch sah ich da aus, mit ordentlich geschnittenen Haaren, schönen Kleidern; dünn und gut duftend. Und auch die anderen sah ich vor mir: Wie sie litten, da ich nicht mehr war, und wie sie bereuten, was sie getan hatten. Ich stellte mir vor, wie mein Vater mit der Schuld nicht leben konnte. Und die Mutter? In meinem Träumen verlor sie alles Lachen und Reden. Auch die Schulkameraden zermürbten sich in diesem Bildern; ihre unglücklichen Gesichter waren zerknirscht, faltig und mit roten Flecken überzogen.

      Bei diesen Vorstellungen fühlte ich mich damals stets besser. Doch irgendwann gab ich mich wohl zu oft diesen Tagträumereien hin. Und irgendwann fing ich dann auch noch an, an Bahnlinien entlang spazieren zu gehen. Ich beobachtete sie: Die Züge, die vorbeirauschten, einer nach dem anderen; einer schneller als der andere.

      Elena schniefte. Sie schaute sich um. In einer anderen verstaubten Kiste hatte sie ein paar alte vergilbte Taschentücher entdeckt. Eigentlich hatte sie sie wegwerfen wollen. Doch nun ... Sie griff nach der Packung, holte eines der Tücher hervor und putzte sich damit die Nase. Sie legte es neben sich auf den Boden und nahm sich schließlich den nächsten Umschlag vor. 3 stand in der rechten oberen Ecke.

      Mit der Pubertät wurde es nicht besser. Ich hatte keinen Bartwuchs und Pickel im Gesicht; meine Stimme wollte nicht tief werden und kein einziges Mädchen interessierte sich für mich; im Gegenteil: Sie lachten und zeigten mit den Fingern auf mich.

      Zu allem Übel, oder vermutlich gerade wegen all dem Übel, war ich wie gelähmt zu dieser Zeit. Kein Wunder also, dass ich nur scheiß Noten hatte. Natürlich hatte ich damit nicht die geringste Chance auf einen gescheiten Beruf. Was blieb mir? Der fette Metzger von nebenan bot mir eine Lehrstelle an. Da wurde auch ich ein fetter Metzger. Tagsüber war ich also fortan in der Schlachterei und schlachtete. Etwas zu töten und zu zerstückeln wurde damals etwas ganz Normales für mich. Auch das viele Blut ... Und nach der Arbeit, nach dem Schlachten und dem blutigen Zerstückeln? Da ging ich wieder zu den Bahnlinien, saß im Gebüsch, selbst wenn es regnete, und malte mir aus, wie es wohl sein würde, wenn es endlich vorbei wäre.

      Ich beobachtete die Güterzüge, die mit Graffiti vollgeschmiert waren; die Regionalbahnen, die immerzu rot waren, rot wie das Blut, das am Tage sooft an meinen Fingern klebte, die Straßenbahnen, die für einen Selbstmordversuch viel zu langsam fahren; und die ICEs, die vorbeirauschen, laut, spitz, schnell. Einer von ihnen sollte der Zug sein, der mich erlösen würde. Jedes Mal, wenn ein solcher weiß leuchtender Pfeil an mir vorbeischoss, bekam ich eine Gänsehaut. Vorfreude ... oder Angst? ... scheißegal!

      Elenas Finger zitterten, als sie nach dem Brief langte, in dessen rechter Ecke die Zahl vier notiert war. Sie öffnete die Verschlusskappe, holte das kleine Blatt hervor und betrachtete Michaels krakelige Handschrift einen Augenblick. Es kam ihr so vor, als würde die Schrift von Brief zu Brief hässlicher und undeutlicher werden. Mit drei Fingern strich sie über das Blatt, das dieses Mal nur zu zwei Dritteln beschrieben war. Dann las sie weiter, wieder lediglich flüsternd:

      Fahrpläne fing ich an zu studieren; Bahnhöfe besuchte ich wieder und wieder; und hinter den Büschen saß ich stundenlang. Ich fragte mich, wie es wohl am besten wäre, zu springen. Von der Seite her, vom Bahngleis herunter, von einer Brücke? Ich war mir sicher, eines Tages von einem Zug überrollt werden zu wollen - ohne Zweifel. Dennoch dachte ich auch an den Zugführer, an Mitreisende oder an die, die am Bahngleis meinen Freitod beobachten könnten. Und ich wünschte mir, der Zugführer wäre mein Vater, die Mitreisenden meine Mutter und Tanten, die am Bahngleis Wartenden meine Klassenkameraden. Und irgendwann vergaß ich einfach, dass all jene nicht meine Verwandten und verhassten Mitschüler sein würden sondern unschuldige Fremde ...

      Wochen, Monate, nein, Jahre vergingen, in denen ich alles plante, wieder und wieder durchdachte und beobachtete.