Nathalie D. Plume

§4253


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kaum noch, er scheint wie von seiner Festplatte gelöscht zu sein, er hat keine Ahnung mehr, wie er Paul und sich die Treppen zur Werkshalle hinunterbekommen hat, wie er ihn an den Flammen vorbeigeschleppt und sich die Hände am heißen Zufahrtstor verbrannt hat. Das Einzige, das später wiederkommt, ist das Gefühl den ersten frischen Atemzug zu tun, das Gefühl die kühle Nachtluft in seine schmerzenden Lungen zu saugen, das Gefühl, wie er das Bewusstsein verliert, und das Gefühl auf der Trage des Krankenwagens zu liegen, einfach nur dazuliegen und sich tragen zu lassen, ohne die Sorge einen Fehler zu machen, ohne die Sorge einen Freund zu verlieren.

      9. Greifswald, Deutschland

      Jalma runzelt fragend die Stirn, wie kann so etwas sein? Ungläubig und mit der absoluten Sicherheit, sich trotz des dritten Mal Lesens doch verguckt zu haben, liest sie die Mail ein viertes und ein fünftes Mal, selbst als sie die Mail ein sechstes Mal überfliegt, wollen sich die Worte nicht ändern. Nervös schiebt sie den Schreibtischstuhl auf dem Linoleumboden hin und her. Ihre Augen sind eisern auf den Bildschirm gerichtet. Nach dem siebten Mal Lesen löst sich ihre Hand wie eigenständig von der Tastatur und gleitet zielsicher in die Aktentasche, die neben dem Schreibtisch steht. Einige Sekunden später scheint sie gefunden zu haben, nach was sie gesucht hat, und kehrt aus den Tiefen der braunen Tasche zurück. Anstatt auf die Tastatur fliegt die Hand weiter an der Schreibtischplatte vorbei in Richtung Jalmas Gesicht. Gekonnt platziert sie eine Zigarette in ihren Mundwinkel und fliegt erst dann wieder auf die Tastatur zurück. Jalma, die ihre Augen immer noch starr auf den Computerbildschirm richtet, zündet die Zigarette mit dem Feuerzeug, das die andere Hand bereits aus der Schreibtischschublade gefingert hat, an und nimmt einen tiefen Zug in ihre Lungen. Erst als die Wirkung des Nikotins einsetzt, lösen sich ihre Augen vom Bildschirm und sie bläst den Rauch an die Bürodecke, dem Feuermelder entgegen. Desinteressiert beobachtet sie, wie der Rauch sich an der Decke verteilt. Nach einem weiteren, genießerischen Zug entspannen sich ihre Augen allmählich; um ihnen weitere Ruhe zu gönnen, lehnt Jalma ihren Kopf auf die Rückenlehne und schließt ihre Augen. Leider hält die erhoffte Entspannungsphase nur wenige Sekunden, bevor ihre Anwaltsgehilfin die Ruhe durchschneidet und sie zwingt ihre Augen wieder zu öffnen. Mit einem Lächeln öffnet sie die Tür und sprudelt in den Raum herein. „Herrgott, Herrgott, die Fusionsanwälte gehen einem ja tierisch auf die Nerven, du wirst nicht glauben, was ich von …“ Ihr Gesprudel verstummt schlagartig, als sie die Zigarette sieht. „Jalma!“, ruft sie ärgerlich durch den Raum hindurch und wischt auch sogleich hustend und wild mit den Armen gestikulierend an dem Schreibtisch vorbei zu dem hinter Jalma liegenden Fenster. Mit einem beherzten Ruck und der Entschlossenheit eines Feuerwehrmanns zieht sie das Fenster auf und hustet in die heiße Luft hinaus. Anschließend greift sie hektisch nach einer auf dem Schreibtisch liegenden Akte und fächert damit in der Luft herum. Jalma, die das Ganze ohne eine Regung ihres Körpers beobachtet, nimmt einen weiteren Zug und stößt die Luft durch ihre Nase in den Raum, dann drückt sie den Stummel auf der Schreibtischplatte aus und schiebt die Asche mit der Maus in den Papierkorb. Angespannt lehnt sie sich in ihrem Lederstuhl zurück und dreht sich zu der dürren, immer noch wild fuchtelnden Gehilfin um. „Jalma, Herrgott, du kannst hier doch nicht rauchen, nicht nur, dass das natürlich streng verboten ist, denk doch mal daran, wenn der Feuermelder angegangen wäre, diesen Einsatz hättest du dann bezahlen müssen, und dieser scheußliche Geruch.“ Mit gerümpfter Nase sieht sie an die Decke zu dem Feuermelder hinauf. „Der ist aus“, entgegnet Jalma mit völligem Desinteresse an den Sorgen ihrer Anwaltsgehilfin. „Wie aus? Was ist aus?“, bekommt sie auch sogleich die Antwort. „Na ja, der Feuermelder, den habe ich ausgemacht. Weiß ich ja selber, dass der sonst angehen würde.“ Die hektische Frau schnappt nach Luft. „Du hast was bitte? Oh Gott, oh Gott, weißt du eigentlich, was das für Konsequenzen gehabt hätte, wenn ein Feuer ausgebrochen wäre, nicht auszumalen.“ Mit einer Hand hält sich die dürre Frau, die Jalma oft an ein Erdmännchen erinnert, ihren Kopf, die andere hält symbolisch die Nase zu. „Wilma, jetzt mach mal einen Punkt, lass diesen Gott aus dem Gespräch heraus und mach dich locker. Wenn es in meinem Büro anfängt zu brennen, ist es doch egal, ob mein Rauchmelder funktioniert, bis sich die Flammen durch die Tür gefressen haben, hätte es entweder einer gemerkt oder der Rauchmelder im Flur wäre angegangen, aber jetzt genug von diesen Banalitäten, lies das!“ Noch genervter als zuvor dreht sie den Computerbildschirm in die Richtung ihrer immer noch japsenden Kollegin und steht auf, um ihr ihren Platz anzubieten. Verdutzt über die viel zu entspannte Antwort ihrer Chefin setzt sie sich auf den unter ihr viel zu breit wirkenden Lederstuhl und setzt, nicht ohne Jalma noch einmal einen ernsten Blick zu schenken, die Brille auf. Bevor sie sich interessiert zum Bildschirm hinüberbeugt, versucht sie noch einmal an Jalmas Vernunft zu appellieren. „Ich verstehe eh nicht, warum du so viel Geld für diese Totmacher ausgibst, ich meine, wie viel Geld kostet eine Packung, 40 Euro?“ Jalma rollt angespannt mit den Augen und schiebt den Stuhl näher an den Schreitisch heran. „Es sind 32 Euro, wir sterben eh alle, hast du in letzter Zeit Nachrichten gesehen, die Polkappen sind nahezu weg, es gibt mehr Klimaflüchtlinge, als irgendein Land der Welt versorgen kann, und der Regenwald brennt zum dritten Mal dieses Jahr. Also könntest du mich und meine Nikotinsucht bitte einmal ignorieren und dich dieser, meiner Meinung nach, völlig merkwürdiger Mail, widmen?“ Den verdutzten erdmännchenartigen Blick analysiert Jalma als Ja und deutet mit einem gequälten Lächeln auf den Bildschirm. Die Gehilfin lässt ein eingeschnapptes „Hm“ erklingen und beginnt die Mail zu überfliegen.

      Während sie interessiert Zeile für Zeile abfliegt und dabei immer wieder murmelnd mitliest, löst Jalma ihre Hand von der Armlehne und wendet sich zum Fenster. Die heiße brennende Luft, die ihr entgegenschlägt, verursacht ihr sofort Kopfschmerzen, trotzdem greift sie nach dem Fenstersims und lehnt sich in die Hitze des Nachmittages hinaus. Tief saugt sie die Luft in ihre immer noch nikotinisierte Lunge und genießt das Gefühl, wie die Hitze um ihre Nasenflügel brennt. Sie mag dieses Gefühl, es erinnert sie an Zuhause, es erinnert sie an die Zeit, in der sie mit ihrer Schwester nach der Schule an den Strand fuhr, sie sich ihre Kleider vom Leib rissen, um möglichst schnell nach den Surfbrettern zu greifen und in den kühlen Nachmittagswellen zu verschwinden. Die Luft war damals heiß, aber die Kühle der Wellen ließ sie erträglich werden und wenn sie oder ihre Schwester eine Welle bekamen und das Privileg genossen sie bis zum Ende zu reiten, war es das mächtigste Gefühl der Welt. Gerade so mächtig, dass man das Gefühl hatte nichts auf der Welt könnte schlimmer sein, als das Ende dieser Welle zu erreichen. Nachdem sie ihre Arme nicht mehr spürten und ihre Beine von den Riffen aufgeschnitten waren, ließen sie sich in den Sand fallen und lachten so lange über die vielen Male, die sie vom Bord gerutscht waren oder eine Welle sie heruntergespült hatte, bis die Sonne auf das Wasser hinabgesunken war. Dann war die Zeit gekommen sich aufzumachen, nach Hause zu fahren, die Bretter in den Truck zu verladen, sich den Sand vom Körper zu reiben, in die engen Kleider zu schlüpfen und in die Hitze des Wagens zurückzukehren. Genau da war dieses Gefühl, die Luft im Auto war jedes Mal so heiß, dass es an den Nasenflügeln brannte, das machte aber nichts, denn die Hitze wurde durch den Fahrtwind herausgeweht und die kühle, feuchte Luft der hawaiianischen Inseln strömte herein, gerade so, als wollte er den Tag herauswehen, um die Nacht anzukündigen.

      Ein Räuspern reißt Jalma aus ihren Erinnerungen und bringt sie in die Gegenwart des Bürokomplexes zurück. Sie richtet ihren müden Blick in die Tiefe der Häuserschlucht und beobachtet kurz die Autos, die sich auf der Straße vorbeischieben, bevor sie in die klimatisierte Luft ihres Büros zurückkehrt und das Fenster hinter ihr schließt. „Also Jalma, auch ich habe diese Mail ein paarmal lesen müssen, um es zu glauben, aber jetzt bin ich mir ganz sicher. Ja, da möchte wirklich einer seinen Arbeitgeber verklagen, weil er von heute auf morgen seinen Job verloren hat.“ Jalma kann die Trockenheit ihrer Gehilfin nicht fassen. „Ja Wilma, das habe ich selbst gelesen, aber der Grund, der Grund ist das, was mich so sprachlos macht, hast du den Grund überhaupt gelesen?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen starrt sie ihre Gehilfin an. „Ja, ja natürlich habe ich den gelesen, das macht mich etwas skeptisch, wenn du mich fragst, würde ich das erstmal überprüfen. Ich glaube ich habe noch die Nummer einer Führungskraft von Dukjon, ich werde da gleich mal anrufen.“ Jalma winkt ab. „Nein vergiss es, gib mir die Nummer, um diese Angelegenheit möchte ich mich selbst kümmern.“ Hektisch schiebt sie das verdatterte Erdmännchen zur Seite, das sich gerade noch rechtzeitig erheben kann, um aus dem Raum komplimentiert