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Die blinde Rosa
An einem schönen Sommertage des Jahres 1846 rollte die Diligence von Antwerpen nach Turnhout wie gewöhnlich über den Steinweg. Die Pferde trappelten, die Räder rasselten, der Wagen knurrte, der Kutscher schnalzte mit der Zunge um die Pferde anzutreiben, in der Ferne schlugen die Hunde an, die Vögel schossen aus den Feldern in die Höhe . . . der Schatten lief neben der Diligence her und tanzte in seltsamen Sprüngen zwischen den Bäumen und Hecken hin.
Plötzlich hielt der Kutscher unweit eines einsamen Wirthshauses seine Pferde an.
Er sprang von seinem Sitze, öffnete schweigend den Schlag seines Wagens, schlug den eisernen Tritt nieder, und reichte einem Reisenden die Hand, der, eine lederne Reisetasche unter dem Arm, aus den Steinweg sprang.
Eben so lautlos schlug der Kutscher den Tritt wieder in die Höhe, schloß den Schlag, stieg wieder ans den Bock, und gab durch ein sanftes Schnalzen das Zeichen zur Abfahrt.
Die Pferde begannen ihren Lauf . . . und das schwerfällige Gebäu rollte fort in seiner stillen, eintönigen Fahrt.
Unterdessen war der Reisende in das Wirthshaus getreten, und hatte sich bei einem Glase Bier an einem Tische niedergelassen. Er war ein Mann von außerordentlich großer Statur, und schien ungefähr fünfzig Jahre alt zu sein. Man hätte ihn sogar für einen Sechziger halten können, wenn nicht seine muthige Haltung, sein lebhafter Blick und das jugendliche Lächeln auf seinen Lippen gezeigt hätten, daß Herz und Seele bei ihm jüngers waren als sein Angesicht. In der That, seine Haare waren grau, seine Stirn und Wangen von zahlreichen Falten durchfurcht, und sein ganzes Gesicht verrieth jene Abgespanntheit, welche Arbeit und Verdruß als ein Zeichen frühen Alters auf das Antlitz prägen. Gleichwohl konnte man seine Brust sich kräftig heben und senken sehen, das Haupt saß stolz auf seinem Nacken, und in seinen Augen funkelte etwas Männliches und Kräftiges.
Seine Kleidung ließ in ihm einen reichere Bürger vermuthen, und dieselbe würde vielleicht Niemandes Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, wenn sein Rock nicht bis unter das Kinn zugeknöpft gewesen wäre, eine Eigenheit, welche, in Verbindung mit seiner großen Meerschaumpfeife, in ihm einen Kriegsmann oder einen Deutschen vermuthen ließ.
Die Hausgenossen hatten, nachdem sie den Reisenden bedient, ohne weiter viel Acht ans ihn zu geben, ihre gewöhnliche Arbeit wieder aufgenommen. Er sah die zwei Töchter gehen und kommen, sah den Pachter Holz und Torf zum Feuer legen, die Mutter den Kochtopf füllen, doch Niemand sprach ein Wort mit ihm, obschon seine Augen Jedermann mit freundlichem Verlangen folgten und zulächelten und sein sanfter Blick zu fragen schien: »Ach! erkennt Ihr mich denn nicht?«
Auf einmal traf der Schlag einer Uhr sein Ohr. – Als ob dieser Klang peinlich auf ihn wirkte, flog ein Ausdruck trauriger Verwunderung über sein Gesicht, und scheuchte das Lächeln von seinen Lippen. Er stand auf und betrachtete verstört das Uhrwerk, bis die neun Schläge, einer nach dem andern, im Zimmer verklungen waren.
Die Hausmutter hatte die unbegreifliche Gemüthsbewegung des Fremden bemerkt, war verwundert zu ihm getreten und blickte gleichfalls zur Uhr hinauf, als wenn dort etwas Besonderes zu entdecken gewesen wäre.
– Nicht wahr, Mynheer, die Glocke klingt schön? sprach sie. Schon zwanzig Jahr geht die Uhr so, ohne daß ein Uhrmacher eine Hand daran gelegt hätte.
– Schon zwanzig Jahres seufzte der Reisende. Und wo ist denn die Uhr geblieben, die früher hier hing? Und wo ist denn das hübsche Liebfrauenbild, was dort oben aus dem Kantine stand? Fort, vernichtet, vergessen, nicht wahr?
Die Frau betrachtete den Fremdling mit Erstaunen und antwortete:
– Mit dem Liebfrauenbilde hat unsere Zanna gespielt als sie noch ein Kind war und sie hat es zerbrochen. Es war doch so herzlich schlecht gemacht, daß der Pastor selbst uns sagte, daß wir ein Neues kaufen müßten. Dort steht ein Neues. Ist das nicht viel schöner?
Der Reisende schüttelte verneinend das Haupt.
– Und die Uhr werdet Ihr gleich hören, fuhr sie fort, es ist ein alter Rumpelkasten, der immer nachgeht. Er hängt schon eine Ewigkeit in unserer Kellerkammer. Horcht da schlägt es eben!
Aus einem andern Gemache drang nun ein sonderbares Geräusch in die Gaststube. Es war eine Vogelstimme, die rief: Kuckuk! Kuckuk! – und so neunmal hinter einander.
Auf einmal erglänzte ein fröhliches Lächeln aus dem Gesichte des Reisenden, und er eilte, von der Frau begleitet, nach dem Kellerkämmerchen, wo er, mit unsäglicher Freude in den Augen, die alte Uhr anblickte, während der Kuckuk sein neunmaliges Lied endigte.
Unterdessen hatten beide Töchter der Pachterin voll Neugierde sich dem Fremdlinge genähert, und betrachteten ihn mit Verwunderung ihre großen, blauen Augen fragend auf ihn und ihre Mutter gerichtet. Die Blicke der Mädchen brachten den Fremdling zum Bewußtsein seines Zustandes zurück, und befriedigt wandte er sich wieder nach dem Nebenzimmer hin, wohin seine drei Begleiterinnen ihm verwundert folgten.
Gewiß erfüllte ein Gefühl des Glückes sein Herz. Sein Angesicht erglänzte im süßesten Ausdrucke der Lebensluft und Liebe; sein Auge von Rührung feucht, leuchtete so freudig, daß beide Mädchen mit sichtbarem Wohlwollen näher zu ihm herantreten.
Er ergriff jede bei der Hand und sagte:
– Was ich thue ist wohl seltsam, nicht wahr, Kinder? Ihr könnt nicht begreifen, warum die Stimme des alten Kuckuks mich so bewegt? Ach! ich in auch Kind gewesen und dann kam mein Vater Sonntags nach der Kirche hierher, um sein Pintchen Bier zu trinken. Wenn ich artig war, durfte ich mit gehen. Und dann stand ich Stunden lang vor der Uhr und wartete bis der liebe Kuckuk sein Thierchen öffnete; ich tanzte und hüpfte bei seinem Rufe und in meinem kindlichen Gemüthe bewunderte ich den armen Vogel als ein u begreifliches Meisterstück der Kunst . . . Und das Liebfrauenbild, das Eine n Euch zerbrochen hat, liebte ich, weil es einen so schönen blauen Mantel hatte – und weil das kleine Jesuskind nach mir das Händchen ausstreckte und mich anlächelte . . . das Kind ist nun beinahe sechzig Jahre alt, sein Ha r ist grau und sein Angesicht von Furchen durchzogen Vier und dreißig Jahre habe ich in den Wüsten Rußlands gelebt . . . und doch erinnere ich mich noch des Liebfrauenbildes und des Kuckuks als oh nur ein einziger Tag verflossen sei, seitdem mein Vater mich das letzte Mal hierher führte.
– Seid Ihr denn aus unserem Dorfe, frug Zanna.
– Ach, ja! antwortete der Reisende in freudiger Bewegung: – aber der Eindruck seiner Worte war nicht der den er erwartet hatte: ein Lächeln belebte die Züge der Mädchen, und dies war Alles; sie schienen weder erstaunt noch erfreut über seine Eröffnung.
– Aber wo ist denn der alte Wirth Joostens? fragte er endlich die Mutter.
– Den Wirth Jan, meint Ihr? antwortete die Wirthin; der ist schon länger denn fünfundzwanzig Jahre todt.
– Und seine Frau, die gute dicke Peeternelle?
– Auch todt, war die Antwort.
– Todt! todt! seufzte der Fremde – Und der junge Schäfer Andries, der so schöne Körbe flechten konnte?
– Auch todt, versetzte die Pachterin.
Der Reisende ließ das Haupt auf die Brust sinken, und überließ sich seinen schwermüthigen Betrachtungen.
Unterdessen ging die Mutter nach der Scheuer und erzählte ihrem Manne was ihr mit dem Unbekannten begegnet war.
Der Pachter kam trägen Schrittes zum Zimmer herein, und schreckte durch das Geräusch seiner Holzschuhe den Reisenden aus seinen peinlichen Betrachtungen auf.
Dieser stand auf, und eilte, die Arme ausgebreitet, jauchzend aus den Pachter zu, der kalt seine Hand erfaßte und ihn fast gleichgültig betrachtete.
– Und Ihr auch, Peer Joostens, Ihr erkennt mich nicht? rief er traurig.
– Nein; ich weiß nicht, daß ich Euch je gesehen habe, Mynheer, antwortete der Pachter.
– Also wißt Ihr nicht mehr, wer mit Lebensgefahr im Torfmoor unter das Eis tauchte, um Euch von einem sicheren Tode zu retten?
Der Pachter zuckte mit den Schultern. – Peinlich getroffen, seufzte der Reisende fast flehend:
– Habt