Rosa Mayreder

Der Wiedergeborene


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      Der Wiedergeborene

      Der Fremde setzte sich in einen Beichtstuhl, um zu lesen, was in seinem Reisehandbuch über die Kirche geschrieben stand. Sie war auf den Trümmern eines von den Christen zerstörten Minervatempels errichtet. Ihre besondere Sehenswürdigkeit bildete der auferstandene Christus, der das Kreuz in der Hand hält. Mit zwei Sternen hatte ihn der Verfasser des Reisehandbuchs ausgezeichnet; das ist, als wenn ein Fürst das Großkreuz eines Ordens verleiht. Dennoch versagte er sich einige kritische Glossen nicht; er bemerkte, daß in dieser Statue mehr das Heldenideal eines Humanisten als der leidende Weltheiland dargestellt sei, nicht die Sanftmut, Duldsamkeit, Ergebung des christlichen Erlösers sondern die Verkörperung siegreicher Kraft und stolzer Selbstherrlichkeit. Zugleich machte er darauf aufmerksam, daß der Bronzeschurz, den die Marmorfigur um die Lenden trägt, später angebracht worden sei, um ihre anstößige Nacktheit zu bedecken, während der metallene Schuh an ihrem linken Fuß gegen die Abnutzung durch gläubige Küsse dienen soll.

      Der Tag neigte sich schon zum Abend. Vielleicht war es ebensosehr die Müdigkeit wie wie das Reisehandbuch, was den Fremden überwältigte. Die Augen fielen ihm zu, er versank tief in Schlaf.

      Als er erwachte, herrschte Nacht. Die Kirche war in schwarze Finsternis gehüllt. Nur vor dem Hochaltar brannte das ewige Licht und warf aus der roten Glasschale glühende Funken auf das kleine silberne Kruzifix, das sich zwischen weißen Blumen von der Platte des Altars erhob. Wie in Blut getaucht schimmerte der Leib des Gekreuzigten und das Gewand der Muttergottes, die als ein zierliches Figürchen zu Füßen des Kreuzes stand. So klein waren die silbernen Gestalten, daß sie in eine unendliche Ferne gerückt erschienen, durch die Finsternis wie durch ein abgründliches Meer von dem Diesseits getrennt. Undurchdringlich wogte dieses Meer der Finsternis in das Schiff der Kirche hinaus, eine uferlose Welt für das Auge, das, noch befangen von den Bildern des Schlafs, ratlos in sie hinausstarrte.

      Aber schon begann die tote Finsternis sich zu beleben. Der uferlose Raum erfüllte sich mit einem dunkelfarbigen Nebel, der von den Fenstern herzuströmen schien. Und wie das formlose Gewoge sich dichter ballte, schied es sich in zwei deutlich getrennte Schichten.

      Die eine stieg aufwärts, erhellte sich zu einem duftigen Blau und ordnete sich strahlenförmig um den fernglänzenden Punkt des Kruzifixes. Durchsichtig unkörperliche Gestalten, nebelhaft zerflossen, schwebten darin, goldene Flügel breiteten sich aus, schillernde Gewänder flatterten in stilvollen Falten, von einem immerwährenden Zephir leicht aufgebauscht. Dazwischen ragten zahllos gestuft verklärte Leiber von Männern und Frauen, allerlei Geräte lieblich vergoldet neben sich, über dem Haupt einen mild leuchtenden Reifen. In feierlich lautloser Stille blickten sie gegen das Kruzifix und regten sich nicht.

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