Rosa Mayreder

Verhängnis


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      Verhängnis

      Er hielt das Schriftstück noch in der Hand, als er schon längst nichts mehr davon sah. Was waren das für rätselhafte Zeichen, die von der weissen Fläche herunterstürzten und durch seine Augen eindrangen in sein Gehirn? Wie kamen sie zu der entsetzlichen Macht dort innen lebendig zu werden und solche Schmerzen zu erregen? Sie verbreiteten sich mit rasender Schnelligkeit in seinem ganzen Körper; sie jagten fieberhaft durch seine Adern, bis sie zu seinem Herzen gelangten. Dort bohrten sie sich ein wie giftige Insekten und frassen es an, dass es sich zusammenzog in grimmiger Pein, die jede andere Lebensregung lähmte.

      Und fortan wird das Schreckliche, das aus diesen Zeichen zu ihm redet, immer vor ihm stehen; es wird da sein, wenn er morgens die Augen aufschlägt, und wird ihn mit gespenstischer Gegenwart zu allen Stunden ängstigen und wird sich zwischen ihn und jede Freude stellen und wird nachts den Schlaf verscheuchen: und er kann es nicht mehr ungeschehen machen, nicht mehr ungeschehen.

      Was für Tage und Nächte! Langsam kamen sie heran, eintönig schleichend, mit unbarmherziger, unstörbarer Stetigkeit Stunde an Stunde reihend, während er das Gefühl eines unergründlichen Schmerzes weiterschleppte. Stundenlang sass er in einem Winkel und starrte vor sich hin, ohne Empfindung für die Zeit, die verstrich. Und wenn er aus diesem Brüten aufwachte, wusste er nicht, woran er gedacht hatte. War es ein Schuldgefühl, das ihn vernichtete? War es die Reue über das Geschehene, das er nicht mehr ändern konnte? Aber es schien ihm, dass es keinen Ausdruck gab, der das bezeichnete, was ihn erfüllte. Wie oft er auch den engen Kreis durchmass, in dem er mit seinem Denken und Erinnern herumtastete, er fand keine Klarheit; er fühlte sich in undurchdringlicher Finsternis von seinem Schmerz festgehalten wie von einer unsichtbaren, dämonischen Gewalt.

      Wenn ihn seine Bekannten auf der Strasse begrüssten und ein freundlich-gleichgültiges Gespräch mit ihm anknüpften, fiel seine Last mit verdoppeltem Gewicht auf ihn. Etwas wie Hass und Verachtung gegen diese Freundlich-Gleichgültigen bemächtigte sich seiner, weil unter ihnen keiner war, dem er anvertrauen hätte können, woran er litt, weil keiner in die schwarze Einsamkeit eindrang, wo er allein mit seiner Qual war, wie ein Sterbender, der sich in den Katakomben verirrt hat.

      Dann stieg in ihm die undeutliche Vorstellung eines Ortes auf, wo er nicht der einzige Leidvolle und Beladene war, sondern nur einer unter vielen, die aus den verschiedensten Erlebnissen herkommend, dennoch alle von der gleichen Last des Schmerzes erdrückt wurden. In der Dämmerung eines weiten Gewölbes sah er sie auftauchen; der Schatten mächtiger Pfeiler beschützte sie, die Stille unbeleuchteter Winkel umfing sie; sie drückten sich in die Nischen, sie schlichen lautlos über die Fliesen und verbargen, ihre Gesichter in einer scheuen gebückten Haltung.

      Er sah sich selbst unter ihnen, den Kopf auf die Brust gesunken, lautlos hingleiten, als wäre er an einem Ort der Abgeschiedenen, in den das Leben, das furchtbare, lärmende, herzzerreissende Leben nicht einbrechen kann. Er sah sich herumirren, ruhesuchend und schon halb eingelullt von der grossen Stille, bis er sich knieend fand, mit der Stirne eine steinerne Stufe berührend, ganz in sich zusammengekrümmt, als könnte so kein Eindruck aus der Aussenwelt mehr an ihn heran. Etwas Beschwichtigendes lag in dieser Vorstellung. Während er auf der Strasse ging oder über einem Buch sass, das seine Aufmerksamkeit nicht zu fesseln vermochte, kniete er heimlich an dem Ort seines Verlangens; und während der schlimmsten Anfälle, wenn die Verzweiflung ihn bis zur Vernichtung zerriss, bereitete es ihm eine Erleichterung in Gedanken seine Stirn an den harten, kalten Stein gepresst und seine Glieder zerbrochen durch die Müdigkeit der zerknirschten Gebärde zu fühlen, in der sein Körper aufgelöst war.

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