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Ein tiefes Geheimniss
Erster Band
Erstes Kapitel
Der 23. August 1829
»Ich bin neugierig, ob sie den heutigen Tag überlebt.«
»Sieh einmal an die Uhr, Joseph.«
»Zehn Minuten über Zwölf. Dann hat sie ja den Tag schon überlebt, Robert, denn es sind bereits zehn Minuten des neuen vorüber.«
Diese Worte wurde in der Küche eines großen Landhauses gesprochen, welches an der Westküste von Cornwall lag. Die Sprechenden waren zwei der Diener, welche das Hauspersonal des Kapitän Treverton ausmachten, eines Marineoffiziers und des ältesten männlichen Repräsentanten einer alten Familie dieser Provinz.
Beide Diener unterhielten sich zurückhaltend und flüsternd, während sie dicht beisammen saßen und sich, so oft ihr Gespräch ins Stocken kam, erwartungsvoll nach der Tür umblickten.
»Es ist etwas Schauerliches,« sagte der ältere beiden Männer, »daß wir zwei so allein hier in dieser unheimlichen Stube und die Minuten zählen, welche unsere Herrin noch zu leben hat.«
»Robert,« sagte der andere, indem er seine Stimme so tief senkte, daß sie kaum zu hören war, »du bist von deinen Knabenjahren an hier im Dienste gewesen – hast du jemals gehört, daß unsere Herrin Schauspielerin war, als unser Herr sie heiratete ?«
»Woher weißt du denn das?« fragte der ältere Diener stutzend.
»Still, still!« rief der andere, indem er sich hastig von seinem Stuhl erhob.
Eine Klingel läutete draußen auf dem Gange.
»Gilt das einem von uns?« fragte Joseph.
»Kannst du denn immer noch nicht unsere Klingeln schon am Klange unterscheiden?« rief Robert verächtlich. »Diese gilt Sara Leeson. Geh hinaus und sieh nach.«
Der jüngere Diener nahm ein Licht und gehorchte. Als er die Küchentür öffnete, fiel sein Auge auf eine lange Reihe gegenüber an der Wand angebrachter Klingeln. Über jeder derselben stand in saubern schwarzen Buchstaben das unterscheidende Prädikat des Dieners, den sie zu rufen bestimmt war. Die Reihe dieser Überschriften begann mit »Haushälterin« und endete mit »Küchenmagd« und »Laufbursche«.
Die Klingeln entlang schauend, bemerkte Joseph mit leichter Mühe, daß eine derselben in Bewegung war. Über derselben stand das Wort »Kammermädchen«.
Nachdem er dies bemerkt, ging er rasch den Gang entlang und pochte am Ende desselben an eine große altväterische Tür von Eichenholz.
Da keine Antwort erfolgte, so öffnete er die Tür und schaute in das Zimmer hinein. Es war finster und leer.
»Sara ist nicht in dem Zimmer der Haushälterin,« sagte Joseph, nachdem er zu seinem Kameraden in die Küche zurückgekehrt war.
»Dann ist sie in ihr Schlafzimmer gegangen,« entgegnete der ältere Diener. »Geh hinauf und sage ihr, daß ihre Herrin sie verlangt.«
Als Joseph hinausging, läutete die Klingel wieder.
»Rasch! – rasch!« rief Robert. »Sage ihr, die Herrin verlange sie sofort. Vielleicht,« fuhr er leiser mit sich selbst sprechend fort, »vielleicht zum letzten Mal.«
Joseph stieg drei Treppen hinauf, ging die Hälfte eines langen gewölbten Korridors entlang und pochte an eine zweite altväterische Tür von Eichenholz.
Diesmal ward der Ruf beantwortet. Eine tiefe, aber klare, sanfte Stimme im Zimmer fragte, wer da sei.
Joseph richtete in wenigen Worten seinen Auftrag aus. Ehe er noch ausgeredet hatte, öffnete sich die Tür ruhig und schnell und Sara Leeson trat ihm mit ihrem Lichte in der Hand auf der Schwelle gegenüber.
Nicht groß, nicht schön, nicht in ihrer ersten Jugend, schüchtern und unentschlossen in ihrem Wesen, äußerst schlicht und einfach in ihrer Kleidung, war die Zofe, trotz aller dieser Nachteile, eine Person, die man nicht ohne ein Gefühl von Neugier, ja sogar von Interesse betrachten konnte.
Wenig Männer würden bei ihrem ersten Anblick nicht den Wunsch empfunden haben, zu erfahren, wer sie sei, und wenige würden sich befriedigt gefühlt haben, wenn sie zur Antwort erhalten: »Es ist Mistreß Trevertons Zofe.« Wenige hätten sich des Versuchs enthalten, aus ihrem Gesicht und ihrem Benehmen irgend einen geheimen Ausschluß zu erlauschen, aber keinem, selbst nicht dem geduldigsten und geübtesten Beobachter, wäre es gelungen, mehr zu entdecken, als daß sie in einer frühern Zeit ihres Lebens die Feuerprobe großer Leiden und Anfechtungen bestanden haben müsse.
Es lag in ihrem Wesen und noch mehr in ihrem Gesicht etwas, was deutlich und wehmütig sagte: »Ich bin das Wrack von etwas, dessen Anblick dir früher zur Freude gereicht haben würde, ein Wrack, welches niemals wieder in Stand gesetzt werden kann – welches unbeachtet, ohne Führer, ohne Mitleid durchs Leben weitertreiben muß, bis es den verhängnisvollen Strand berührt und die Wogen der Zeit diese kümmerlichen Überreste meines Ich für immer verschlungen haben.«
Dies war die Geschichte, die in Sara Leesons Zügen geschrieben stand – dies und nichts weiter.
Von allen, welche diese Geschichte sich selbst zu deuten versucht, würden wahrscheinlich auch nicht zwei eine und dieselbe Ansicht über die Beschaffenheit des Leidens gehabt haben, welches diese Person durchzumachen gehabt.
Erstens war es schwierig zu sagen, ob der Schmerz, welcher ihr sein unauslöschliches Gepräge aufgedrückt, Schmerz des Körpers oder Schmerz der Seele gewesen sei. Von welcher Beschaffenheit aber auch die Heimsuchung, von der sie betroffen worden, gewesen sein mochte, so waren die Spuren, welche dieselbe zurückgelassen, in jedem Teile ihres Gesichts tief und auffallend sichtbar. Ihre Wangen hatten ihre Rundung und natürliche Farbe verloren, ihre in Bezug auf Bewegung eigentümlich biegsamen, zartgeformten Lippen hatten eine ungesunde, blasse Farbe angenommen, ihre großen, schwarzen, von ungewöhnlich dichten Wimpern überschatteten Augen hatten einen seltsamen ängstlichen, scheuen Blick, der sie niemals verließ und die schmerzliche Empfindsamkeit und angeborne Schüchternheit ihrer Gemütsart auf mitleiderregende Weise verriet.
Insoweit waren die Spuren, welche Kummer oder Krankheit an ihr zurückgelassen, ganz dieselben, welche den meisten Opfern geistiger oder physischer Leiden gemeinsam sind.
Eine ganz außerordentliche Veränderung aber, die mit ihr vorgegangen war, bestand in dem unnatürlichen Wechsel, der die Farbe ihres Haars betroffen hatte. Es war so dicht und weich und noch ebenso schön und üppig wie das Haar eines jungen Mädchens, aber grau wie das Haar einer Matrone. Es schien in der auffälligsten Weise jeder Spur von Jugend, die sich noch in den Gesichtszügen vorfand, zu widersprechen.
Trotz der Magerkeit und Blässe des Gesichts hätte man dieses nämlich, sobald man es richtig angesehen, keinen Augenblick für das einer bejahrten Frau halten können. So abgezehrt die Wangen auch waren, so hatten dieselben doch nicht eine einzige Runzel. Ihre Augen besaßen, abgesehen von dem darin vorherrschenden Ausdruck von Unruhe und Schüchternheit, noch jenen feuchtschimmernden Glanz, der an den Augen alter Leute niemals wahrzunehmen ist. Die Haut um die Schläfe herum war zart und glatt wie die eines Kindes.
Diese und noch einige andere nie trügende Anzeichen bewiesen, daß sie in Bezug auf die Jahre noch in der Blüte des Lebens stand. So kränklich und bekümmert sie auch aussah, so hatte sie doch von den Augen abwärts ganz das Ansehen eines Frauenzimmers, welches höchstens dreißig Jahre zählte.
Von den Augen an aufwärts aber war der Eindruck ihres üppigen grauen Haares, in Verbindung mit ihrem Gesicht betrachtet, nicht bloß ein unvereinbarer, sondern auch geradezu befremdender, so befremdend, daß es kein Widerspruch ist, wenn man sagt, daß sie natürlicher ausgesehen haben würde, wenn ihr Haar gefärbt gewesen wäre. Die Kunst hätte in diesem Falle die Wahrheit zu sein geschienen, weil die Natur wie Lüge aussah.
Welche Zauberkraft hatte ihrem Haar in seiner üppigsten Reife die Farbe eines unnatürlichen Greisenalters mitgeteilt? War es schwere Krankheit, oder furchtbarer Kummer gewesen, der sie in der Blüte ihrer Jahre grau gemacht?
Diese Frage hatte ihre Dienstgenossen oft beschäftigt, denn alle waren, als sie sie zum ersten Mal gesehen, von der Eigentümlichkeit ihrer persönlichen Erscheinung betroffen und