Franziska Gehm

Die Vampirschwestern 4 - Herzgeflatter im Duett


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Franziska Gehm

      Die Vampirschwestern – Herzgeflatter im Duett

      Verheißungsvolle SMS

      Am nördlichen Rand der Großstadt, im letzten Haus im Lindenweg, in der ersten Etage im Badezimmer stand Silvania Tepes vor dem Spiegel. Ihre Nasenspitze berührte fast die Spiegelfläche. Silvania musterte sich kritisch. Das war nicht einfach. Sie war ein Halbvampir. Ihr Spiegelbild war undeutlich. Ein feiner Nebelschleier lag darüber. Silvania zog die Augenbrauen hoch. Dann blinzelte sie mit den langen braunen Wimpern. Sie spitzte die Lippen. „Hello, Jacob. Pleased to meet you, too.“ Sie lächelte. Plötzlich hielt sie inne. Sie starrte auf ihre Eckzähne. Sie runzelte die Stirn. „Schlotz zoppo!“, flüsterte sie. „Ich habe die Dentiküre vergessen!“ Blind griff sie nach der Zahnfeile auf dem Beistelltischchen. Sie setzte die Feile gekonnt am rechten Eckzahn an, wie ein Geiger den Bogen.

      Im Bad erklangen gänsehauterzeugende Geräusche. Ritsche, ratsche, knirsch, knack, quietsch, quötsch, ding, doing. Nachdem Silvania den rechten Eckzahn gekürzt hatte, setzte sie die Feile an den linken Eckzahn. Ritsche, ratsche, knirsch, knack, quietsch, quötsch, ding, doing. Sie legte die Feile beiseite. Sie fuhr sich mit der Zunge über die gekürzten Eckzähne. Das fühlte sich gut an! Hoffentlich sah es auch gut aus. Es war nie schlecht, gut auszusehen. Aber heute war es besonders wichtig.

      Plötzlich klopfte es kräftig an der Badtür. „Ich muss mal!“

      Das war Dakaria Tepes. Sie war Silvanias Schwester. Silvanias jüngere Schwester. Denn sie kam genau sieben Minuten später auf die Welt. Dakaria wurde sie allerdings nur von Lehrern und anderen Leuten genannt, die es nicht besser wussten. Für den Rest war sie Daka.

      Silvania öffnete die Badtür. „Flops dich doch einfach in den Wald. Denk an Onkel Vlads Worte: Stuhlgang in der Natur ist Hochgenuss pur.“

      Onkel Vlad, der in Transsilvanien lebte, war wie alle Vollblutvampire ein Verfechter der Freiluftentleerung. Die wenigsten Vampire hatten Toiletten im Haus. Ihrer Meinung nach war es unrein, am Ort des Lebens, Kochens, Essens, Schlafens und Spielens Körperausscheidungen zu hinterlassen. Daka leuchtete das ein. Manchmal. Zumindest in Transsilvanien. Jetzt sah die Lage anders aus.

      Daka hatte die Lippen aufeinandergepresst. Sie stand leicht gebückt, kniff die Oberschenkel zusammen und schüttelte den Kopf.

      „Es ist dringend, stimmt's?“ Silvania trat schnell aus dem Badezimmer.

      Daka nickte. „Außerdem ist Flopsen verboten.“

      Flopsen war eine Fortbewegungsweise der Vampire. Und Halbvampire. Sie konnten sich in Sekundenbruchteilen von einem Ort zum anderen bewegen. Flops, waren sie da! Aber es funktionierte nur über kleine Entfernungen und war sehr kräftezehrend.

      Silvania nickte wissend, während ihre Schwester die Badtür schloss. Die sieben radikalen Regeln.

      Elvira Tepes, die Mutter der Zwillinge, hatte vor dem Umzug von Transsilvanien nach Deutschland sieben radikale Regeln aufgestellt, wie sich die Halbvampire in ihrer neuen Heimat zu verhalten hatten:

      1. Kein Fliegen bei Tageslicht

      2. Keine lebenden Mahlzeiten (auch keine Snacks wie Fliegen, Käfer oder Würmer)

      3. Ausreichend Sonnenschutz (Sonnencreme, Hut, Sonnenbrille etc.)

      4. Haustiere wie Blutegel, Mücken, Zecken und Flöhe bleiben zu Hause

      5. Spiegel, Spiegelreflexkameras und Knoblauch sind zu meiden

      6. Kein Einsatz übernatürlicher Kräfte (wie Hypnotisieren, Belauschen oder Flopsen)

      7. Wöchentliche Dentiküre

      Silvania fiel das Einhalten der Regeln nicht schwer. Meistens. Denn meistens wollte sie sowieso lieber ein Mensch sein. Daka dagegen hatte ihre Probleme mit den radikalen Regeln und dem Leben in Deutschland. Meistens. Denn meistens wollte sie lieber ein echter Vampir sein.

      Silvania ging in das Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester teilte. Sie legte sich auf ihr Bett. Fünf Sekunden starrte sie an die Decke. Dann holte sie ihr Handy hervor und hielt es sich vors Gesicht. Jacob hatte ihr schon drei SMS geschrieben. Jacob war Silvanias Englisch-Nachhilfelehrer. Er wusste alles über Present Perfect, unregelmäßige Verben und if-Sätze. Was er nicht wusste, war, dass Silvania gar keine Nachhilfe brauchte. Zumindest nicht in Englisch. Höchstens im Fliegen. Aber Fliegen war in Deutschland kein Unterrichtsfach. Zum Glück, fand Silvania.

      Silvania las sich die SMS zum 54. Mal durch. Die erste SMS lautete: „O. K. Wann?“ Die zweite lautete: „Ja“ und die dritte: „Bis dann.“ Diese SMS fand Silvania am schönsten. Sie war so verheißungsvoll. Silvania seufzte und stellte sich Jacobs Augen vor. Sie waren glasklar und hellgrau wie ein Winterhimmel, aus dem es jeden Moment schneit. In wenigen Minuten würden sie sich wiedersehen. Bei dem Gedanken tobte ein Schneesturm in Silvanias Bauch.

      Sie hatte Jacob vorgeschlagen, den Unterricht aktiver zu gestalten. Statt bei ihr zu Hause zu sitzen, sollte die Nachhilfe heute auf dem Jahrmarkt stattfinden. Silvania hatte einen guten Grund, die Nachhilfe auf den Jahrmarkt zu verlegen. Es war besser, wenn ihre Eltern Jacob nicht so schnell wiederbegegneten. Und auch Jacob war nicht wild darauf, in den Lindenweg 23 zu kommen. Bei der letzten Nachhilfe hatte es einen … nun ja, einen kleinen Zwischenfall gegeben, bei dem ein mausfressender Cousin, eine fliegende Tante und ein angriffslustiger Onkel eine nicht ganz unbedeutende Rolle gespielt hatten.

      Aber es gab noch einen weiteren Grund, warum Silvania Jacob um eine Nachhilfestunde auf dem Jahrmarkt gebeten hatte. Sie stellte sich Englischnachhilfe auf dem Jahrmarkt unheimlich romantisch vor. Silvania könnte zu Jacob sagen: „Let's take a ride on the Wilde Maus.“ Sie könnten zusammen Riesenrad fahren. Die Stadt würde ihnen zu Füßen liegen, doch es würde sie nicht interessieren, weil sie nebeneinandersaßen und mit … na ja, Nachhilfe beschäftigt waren. Jacob könnte eine Rose für Silvania schießen und in der Geisterbahn, wenn sie sich eng aneinanderkuschelten, würde es passieren: Statt Present Perfect gab es den Perfect Kiss. Yessss!

      Allerdings gab es ein kleines Problem. Silvania war nicht alleine auf die Idee mit dem Jahrmarkt gekommen. Genau genommen, ganz ehrlich, in wirklicher Wirklichkeit war sie gar nicht darauf gekommen, sondern Daka. Daka hatte gute Ideen. Manchmal. Allerdings bedeutete das in dem Fall, dass Daka mit auf den Jahrmarkt kommen würde. Helene und Ludo hatte sie auch Bescheid gesagt. Sie waren die besten Freunde der Zwillinge. Und die Einzigen, die bis auf ihre Eltern und Oma Rose wussten, dass Daka und Silvania Halbvampire waren. Dafür kannten die Zwillinge auch die Geheimnisse von Helene und Ludo. Helene versteckte hinter ihren langen blonden Haaren ein Hörgerät, liebte nächtliche Ausflüge zum Friedhof und bemalte sich gerne die Arme mit Monstern und Spinnen. Ludo konnte in die Zukunft sehen. Leider nur undeutlich. Er konnte auch mit Toten reden. Aber das glaubten nur er und sein Opa.

      Normalerweise würde Silvania sich darauf freuen, mit ihrer Schwester, Helene und Ludo auf den Jahrmarkt zu gehen. Sehr sogar. Aber wie sollte es da zum Perfect Kiss kommen? Ein Kuss, bei dem ihre Schwester zusah, konnte nicht perfekt sein. Silvania drehte das Handy um und las sich Jacobs SMS auf dem Kopf stehend durch. Vielleicht war eine geheime Botschaft verborgen. Silvania runzelte die Stirn. Sie streckte die Zunge heraus. Sie konnte nichts erkennen.

      Treffpunkt Springbrunnen

      Jacob Barton kramte in der Hosentasche nach seiner Uhr. Er zog sie mit ein paar Fusseln und einem zusammengeknüllten Stück Kaugummipapier heraus. Er sah auf die Anzeige. 14 : 58 Uhr. So pünktlich war er bis jetzt noch nie zur Nachhilfe erschienen. Er stand vor einem Imbissstand namens Werners Waffeln in der Nähe des Springbrunnens, an dem er seine Nachhilfeschülerin treffen sollte. Silvania Tepes. Sie war die ungewöhnlichste Nachhilfeschülerin, die Jacob jemals gehabt hatte. Sie kleidete sich ungewöhnlich. Sie erzählte ungewöhnliche Sachen. Und sie hatte eine ungewöhnliche Familie. Die war nicht nur ungewöhnlich, sondern sogar unheimlich. Jacobs rotblonde Haare standen auf seinen blassen Armen jetzt noch zu Berge, wenn er an Silvanias Onkel dachte.

      Er steckte die Uhr wieder ein und zog die Ärmel seines graublauen Kapuzensweatshirts herunter. Dann wickelte er sich den rot-blau gestreiften Schal