anziska Gehm
Die Vampirschwestern – Ein bissfestes Abenteuer
Für jeden Popo was
Elvira Tepes klemmte sich fünf Klobrillen unter den Arm. Dann hängte sie sich ihre Handtasche über die Schulter und gab ihrem Mann einen Abschiedskuss. Sein schwarzer Schnauzbart, der zwei riesengroßen Lakritzschnecken ähnelte, kitzelte. „Tschüss, mein Mihai. Schlaf gut!“
Mihai Tepes stand auf der Treppe zum Keller und lächelte seiner Frau nach. Als die Haustür ins Schloss fiel, gähnte er. Es war schon fast zehn Uhr morgens. Höchste Zeit, in den Sarg zu gehen. Langsam stieg Herr Tepes die Stufen hinab. Er konnte gar nicht glauben, dass er sich so schnell an das neue Zuhause gewöhnt hatte. Doch sein Heimweh blieb nach wie vor groß. Er vermisste die dichten transsilvanischen Wälder, seine Freunde und Verwandten. Er vermisste es, als richtiger Vampir zu leben.
Es war schon fast ein Monat vergangen, seit der Möbeltransporter aus Transsilvanien in den Lindenweg gebogen war. Mihai und Elvira Tepes waren mit ihren Töchtern Silvania und Daka in das Reihenhaus Nummer 23 eingezogen. Mihai Tepes, zweiter Sohn einer ehrwürdigen Vampirfamilie aus Bistrien, wohnte samt Sarg, Orgel und Rennzecken im Keller. Nicht ganz freiwillig.
Elvira Tepes hatte in der oberen Etage nicht nur ein Schlafzimmer besetzt, sondern auch eins der Kinderzimmer, das ursprünglich für Silvania vorgesehen war. Dort lagerte sie 250 Klobrillen, die sie günstig in Rumänien erstanden hatte. Vor ein paar Tagen hatte sie ihren ersten eigenen Laden in der Innenstadt von Bindburg eröffnet. „Die Klobrille“. Es war der erste Klobrillenladen der ganzen Stadt. Vielleicht sogar in ganz Deutschland. Oder im ganzen Universum. Silvania und Daka hatten ihrer Mutter bei den Vorbereitungen zur Eröffnung geholfen. Sie hatten den Werbeslogan von Frau Tepes an das Schaufenster geklebt: Ich gestalte Klobrillen, ganz nach Ihrem Willen. Klobrillen nach Maß – für jeden Popo was!
Frau Tepes hatte zu Anschauungszwecken bereits ein paar Klobrillen kunstvoll gestaltet. Sie hingen wie Ausstellungsstücke in einem Museum an der Wand des kleinen Ladens. Die Eröffnung war ein voller Erfolg gewesen. Zunächst waren nur Familie Tepes, Oma Rose und Opa Gustav und der Ladenvermieter Dr. Peter Steinbrück mit seiner Tochter Helene gekommen. Doch im Laufe des Tages verirrten sich immer mehr Schaulustige und Stadtbummler in den außergewöhnlichen Laden. Frau Tepes bekam sogar die ersten Aufträge: Ein Mann wollte eine hellblaue Plüschklobrille, passend zu seinem Badvorleger, und eine Frau wollte eine Klobrille bemalt mit Gummibärchen, damit sie ihren kleinen Sohn dazu brachte, statt auf das Töpfchen aufs Klo zu gehen.
Frau Tepes war sehr zufrieden. Mit ihrem Laden, dem Umzug zurück in ihre Heimat und mit ihrem Mann, der sich noch mal in aller Form bei Herrn Dr. Steinbrück entschuldigt hatte. In einem nächtlichen Anflug von Eifersucht hatte er versucht, ihn zu beißen. Bei mehreren Kaffees, Tees und Sprudelwässern war es Frau Tepes gelungen, ihren Vermieter von der Harmlosigkeit ihres Mannes zu überzeugen. Zumindest dachte er jetzt, Mihai Tepes litte an einer unerforschten psychischen Störung: krankhafte Eifersucht mit Bisszwang.
Wäre es nur nach Mihai Tepes gegangen, hätte er freiheraus gesagt, wie es sich wirklich verhielt: Er war ein Vampir! Und darauf war er stolz. Er hasste es, sich zu verstecken. Aber er hatte es Elvira versprochen. Sie glaubte an Vampirjäger und fürchtete, alle Menschen würden entweder die Flucht ergreifen oder auf die Familie losgehen, wenn sie wüssten, dass ihr Mann ein Vampir und ihre Töchter Halbvampire waren. Dabei lebten Vampire, Halbvampire und Menschen in Transsilvanien friedlich zusammen. Na gut, nicht ganz so friedlich. Ab und zu verschwand schon mal ein unvorsichtiger Mensch. Aber er war selbst schuld, wenn er nicht aufpasste!
Mihai Tepes schloss die Kellertür, legte sich in seinen Sarg mit der Heimaterde und atmete tief ein. Er schloss die Augen und stellte sich vor, mit seinem Bruder Vlad durch die transsilvanischen Wälder zu fliegen, über rauschende Bäche hinweg und durch steinige Schluchten. Sie verspeisten genüsslich die Fliegen, die sich dabei in ihren Mund verirrten. Der Wind zerzauste Mihai die halblangen pechschwarzen Haare, während sie immer schneller flogen, geradewegs auf den Vollmond zu …
„Papa?“
Jemand klopfte kräftig am Sargdeckel. Mihai Tepes stöhnte. Er verabschiedete sich von seinem Traum, von Vlad, dem Mond und den transsilvanischen Wäldern. Dann öffnete er die Augen und stieß den Sargdeckel auf. „Was?“
Seine Tochter Daka, die sieben Minuten jüngere Zwillingsschwester von Silvania, hielt ihm den Telefonhörer entgegen. „Onkel Vlad.“
Herr Tepes fuhr sich durch die Haare. „Schon wieder?“
Daka nickte.
„Mitten am Tag?“
Daka nickte abermals.
Schließlich nahm Herr Tepes den Telefonhörer. „Danke“, sagte er und strich Daka kurz über ihre Stachelhaarfrisur. Erst gestern Nacht hatte Mihai Tepes mit seinem Bruder gechattet. Und vorgestern Nacht hatten sie sich im Fünfminutentakt SMS geschrieben. Herrn Tepes tat noch immer der Daumen weh. Anscheinend vermisste Vlad seinen kleinen Bruder in Transsilvanien genauso sehr wie der seinen großen Bruder in Deutschland.
„Hoi, Vlad“, meldete sich Mihai. Das Gespräch fand natürlich auf Vampwanisch statt. Einer der kompliziertesten und ältesten Sprachen der Welt. Vlad erkundigte sich nach der Familie, dann regte er sich über einen Nachbarn auf, der tagsüber Orgel spielte (und dazu noch schlecht), und schließlich kam er zu seinem Lieblingsthema: der Weltrevolution der Vampire aller Länder.
Mihai Tepes war über die Revolution aus früheren Gesprächen bestens informiert, deswegen hörte er nicht so genau hin. Er legte sich mit dem Telefonhörer am Ohr wieder in den Sarg, schloss den Deckel und brummte ab und zu „hm, hm“. Herr Tepes brauchte dringend Schlaf. Seine Nachtschichten als Gerichtsmediziner am Institut für Rechtsmedizin waren doch anstrengender, als er gedacht hatte. Vor allem, wenn man neben der Arbeit noch ein paar leckere Blutkonserven mit nach Hause in die große Tiefkühltruhe schmuggeln musste.
Daka war wieder nach oben gegangen. Sie setzte sich neben Silvania auf die blutrote Couch im Wohnzimmer und stellte ihre nackten Füße in ein Katzenklo. Es gehörte Herrn Tepes und war am Boden mit Heimaterde bedeckt.
Silvania las in der neuesten Mädchenzeitschrift. „Fumpfs!“, rief sie. „Lila ist total out, jetzt ist Kirschrot in.“ Sie starrte voller Entsetzen auf ihre lila lackierten Fingernägel.
„Tja, da hilft nur Fingerabhacken.“ Daka verdrehte die Augen.
„Übrigens ist der Punklook auch total out“, sagte Silvania und zeigte auf die Seeigelhaarfrisur ihrer Schwester.
„Bei Menschen vielleicht.“
Silvania seufzte. „Hallo! Guten Morgen! Wir sind jetzt bei den Menschen.“
„Na und? Trotzdem bin ich ein Halbvampir.“ Daka fuhr sich mit der Zunge über ihre spitzen Eckzähne. Es war höchste Zeit für Dentiküre. Sie sprang auf und holte ihre Zahnfeile aus dem Bad. Dann setzte sie sich wieder auf die Wohnzimmercouch und begann, an einem Eckzahn zu feilen. Es quietschte furchtbar.
Silvania verzog das Gesicht. „Was soll denn das jetzt?“
Daka setzte die Feile ab. „Dentiküre. Radikale Regel Nummer sieben.“ Frau Tepes hatte sieben radikale Regeln für die Töchter aufgestellt. Sie verboten den Halbvampiren zum Beispiel Fliegen bei Tageslicht, Flopsen, lebende Mahlzeiten und schrieben Dentiküre und Tragen von Sonnenschutz vor. Normalerweise hielt sich Daka nicht besonders an die radikalen Regeln. Aber wenn ihr langweilig war und sie ihre Schwester damit ärgern konnte, dann schon.
„Musst du das hier mitten im Wohnzimmer machen?“ Silvania beugte sich zur Terrassentür. „Wo dich jeder sehen kann?“
„Meinst du den Komposttypen?“ Daka winkte ab. „Der hat sich schon seit Tagen nicht mehr blicken lassen.“
Dirk van Kombast, der unmittelbare Nachbar der Tepes, war tatsächlich seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Dabei sah man ihn sonst regelmäßig, gut gebräunt und gut geföhnt, in seinem silbernen Sportwagen den Lindenweg entlangfahren.
„Vielleicht ist er auf extralange Vertreterreise gegangen“, überlegte Silvania laut.
„Sag bloß, du vermisst ihn!“
Silvania