Rosa Luxemburg
Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution
Terrorismus in Rußland; Organisation der russischen Sozialdemokratie; Massenstreik…
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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-334-1
Inhaltsverzeichnis
Zur Frage des Terrorismus in Rußland (1902)
Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie (1904)
Im Feuerscheine der Revolution (1905)
Massenstreik, Partei und Gewerkschaften
Zur Frage des Terrorismus in Rußland
(1902)
I
Die Leipziger Volkszeitung hat in ihrer Montagsnummer das von der russischen Terroristengruppe aus Anlaß des Attentats auf den Charkower Gouverneur, Fürsten Obolenski, veröffentlichte Dokument zur Information der Leser mitgeteilt, wir können aber nicht umhin, zu bemerken, daß dieses Dokument sowie das bereits vor einiger Zeit gleichfalls von uns abgedruckte Manifest über die Konstituierung der terroristischen Organisation in uns mancherlei Bedenken hervorgerufen hat.
Sowenig es uns möglich ist, von Deutschland aus über die Einzelheiten der Parteitaktik unserer russischen Genossen mit voller Sicherheit ein Urteil zu fällen, sosehr liegt es andererseits in unserem Interesse, die Bahnen, welche die nun erwachte revolutionäre Bewegung im Zarenreiche wandelt, aufmerksam zu beobachten und uns über ihre jeweiligen Aussichten klare Rechenschaft abzulegen. Seit in letzten Jahren aus dem politischen „Ewigschneefeld“ des Zarenreiches ein warmer Frühlingswind zu wehen begann, seit das scheinbar Undenkbare zur Wirklichkeit geworden und eine revolutionäre Massenerhebung des arbeitenden Volkes die jahrhundertalte schwere Eisdecke des Absolutismus von unten aus zu sprengen unternahm, belebten sich von neuem die Hoffnungen aller Freiheitsfreunde in Westeuropa, d. h., genauer gesprochen, aller sozialistischen Parteien. Man faßte wieder Mut und Glauben, daß die bis dahin unlösbare Aufgabe der Stürzung der russischen Despotie doch noch in absehbarer Zeit ihrer Lösung entgegengeführt werden könnte, und daraus erklärt sich die warme Teilnahme und das gespannte Interesse, mit denen man die ungewohnten Nachrichten von den Arbeiterdemonstrationen, von den Massenaufzügen in den großen Städten Rußlands aufnahm. Aus allen diesen Einzelnachrichten mußte man den Eindruck eines tiefernsten, achtunggebietenden Kampfes zwischen dem russischen Proletariat und dem Absolutismus gewinnen. Nun will es uns aber scheinen, daß die letzten Nachrichten, die in der deutschen Presse von der terroristischen Partei erscheinen, eher geeignet sind, diesen Eindruck zu erschüttern, als zu befestigen.
Die Frage des Terrorismus in Rußland als einer Waffe im Kampfe mit der zarischen Übermacht kann von verschiedenen Gesichtspunkten angefaßt werden. Handelt es sich um individuelle Akte der Verzweiflung und des Opfermutes einzelner Freiheitskämpfer, um elementare Ausbrüche des zum äußersten getriebenen Volkszornes, dann gehört nur das echte Scharfmachergemüt einer „Post“ oder eine echt deutsche freisinnige Seele à la Tante Voß dazu, um solche reinen Abwehrakte als „Propaganda der Tat“, als Fürstenmord etc. zu verdammen. Jeder rechtlich denkende, politisch anständige Mensch muß den Verzweiflungsakten der von russischen Satrapen mit unmenschlicher Grausamkeit und mit Raffinement niedergetretenen Pioniere der Volksbefreiung seine tiefste Teilnahme, Achtung und Bewunderung zollen. Und da das Gefühl der Rechtlichkeit und der politische Anstand im besseren Sinne heutzutage in Deutschland so ziemlich in der klassenbewußten Arbeiterschaft ihre einzige Vertretung finden, so zeigte sich auch aus Anlaß der Diskussion über das Attentat auf den Wilnaer Gouverneur, v. Wal, daß die gesamte sozialdemokratische Fresse mit der Leipziger Volkszeitung einig war, als uns die freisinnige Vossische Zeitung wegen der „Verherrlichung“ des Attentäters mit freisinnigem Mut vor Fürsten thronen zu denunzieren versuchte.
Solchen spontanen individuellen Akten des Terrorismus gegenüber, wie im Falle des Studenten Karpowitsch, der den Minister Bogolepow getötet hat, oder des Wilnaer Arbeiters Leckert, ist auch die Frage von der Zweckmäßigkeit unangebracht. Sie wird erst berechtigt und notwendig, wenn wir die andere Art des Terrorismus vor uns haben, wie sie von der Gruppe der Sozialisten-Revolutionäre vertreten wird, den systematischen Terrorismus, den Terrorismus als zielbewußte Taktik einer bestimmten sozialistischen Organisation, angewendet zur Erzielung eines politischen Effekts. Vor einigen Monaten hatten wir nur mit der ersten Art der terroristischen Anschläge in Rußland zu tun und konnten lediglich unsere tiefe Sympathie für die heldenmütige Selbstaufopferung der Märtyrer des barbarischen Regimes aussprechen. In den letzten Monaten bekommen wir jedoch immer häufiger Nachrichten von einem speziellen terroristischen Komitee der Sozialisten-Revolutionäre, und da müssen wir uns fragen, ob dies auch in der heutigen Situation eine richtige Taktik unserer russischen Genossen ist.
Wir stehen nicht an, offenheraus zu sagen, daß wir dies bezweifeln. Der Terrorismus als System wird das absolute Regime in Rußland von selbst nicht stürzen. Das hat bereits das große Experiment der „Narodnaja Wolja“ bewiesen. Jeder weggeräumte Zar findet einen Nachfolger und jeder getötete Gouverneur desgleichen. Um das Regime zu fällen, muß an seine Wurzel die Axt gelegt werden, die Wurzel des Absolutismus aber, das ist der politische Stumpfsinn der Volksmasse. Abgesehen etwa von einer Kalamität der auswärtigen Politik, wie z. B. einem unglücklichen Krieg, der übrigens an sich nur die Mauern des Absolutismus erschüttern, aber nichts Positives zu erschaffen vermag, kann das Zarentum nur durch eine regelrechte zielbewußte Volkserhebung gestürzt werden, die aber ihrerseits nur durch eine dauernde aufklärende und organisatorische Arbeit vorbereitet werden kann. Die russische Sozialdemokratie hat diese Arbeit seit einigen Jahren unternommen, und die letzten Massendemonstrationen beweisen, wie fruchtbar der Boden und wie richtig die Taktik ist.
Ein systematischer Terrorismus kann nun, wie uns scheint,