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Lew Tolstoi
Sewastopol
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066112196
Inhaltsverzeichnis
Sewastopol im Dezember 1854, im Mai und August 1855
Kaukasische Erzählungen - Ein Ueberfall - Der Holzschlag - Begegnung im Felde
Ein Ueberfall - Erzählung eines Freiwilligen
Der Holzschlag - Erzählung eines Junkers
Sewastopol im Dezember 1854, im Mai und August 1855
Leo Tolstoj war aus dem Kaukasus in die Heimat zurückgekehrt. Er war Soldat und konnte sich – nach den kleinen Scharmützeln mit den ungebändigten Gebirgsstämmen, – auch dem gewaltigen Völkerkriege nicht entziehen, dessen Schauplatz die Krim ward. Vor Sewastopol fiel die Entscheidung in diesem ungleichen Kampfe, den Rußland gegen zwei Großmächte des Westens zu führen hatte.
Am 23. September hatten die Russen ihre ganze Flotte in das Schwarze Meer versenkt, um den Angriff von der Seeseite her zu vereiteln, und Totlebens Kunst hatte die Festung durch Aufführung von Forts und Bastionen zu einer fast uneinnehmbaren gemacht. Die fortgesetzte Beschießung aber mit ihren Opfern an Menschenleben, die Abschneidung der Zufuhr von Lebensmitteln und die gänzliche Ermattung des russischen Heeres führten endlich am 27. August 1855 nach einem furchtbaren Sturmangriff zur Uebergabe Sewastopols.
Alle Leiden des russischen Heeres hatte der junge Offizier in der vierten Bastion, an einer der gefährlichsten Stellen der belagerten Festung, mitgemacht. Und gewohnt, das Erlebte im dichterischen Spiegelbilde festzuhalten, bannte Leo Tolstoj auch die Leidenstage von Sewastopol in drei gewaltige Schilderungen, die das entzückte Rußland mit steigender Bewunderung las, während noch der Heldenmut seiner Söhne vergeblich um den Sieg rang. Kaiser Nikolaus selbst, der Urheber des großen Völkerunglücks, war von dem Werke des jungen Offiziers begeistert. Er gab den Befehl, ihn von dem gefährlichen Orte zu entfernen, damit das Leben eines zukunftsreichen Talents geschont werde.
Tolstoj wählte für seine Schilderungen den Anfang, den Höhepunkt und das Ende der Kämpfe vor Sewastopol, und benennt sie äußerlich nach der Zeit: Sewastopol im Dezember, Sewastopol im Mai, Sewastopol im August.
Aus diesen drei Augenblicksbildern sprechen mit beredten Worten das tiefe Mitgefühl mit den Leiden des Volks, die Bewunderung für seine unwandelbare Tapferkeit und Leidensfähigkeit, der große Schmerz um den Völkerwahn des Krieges, die Geringschätzung für Eigenschaften, die eine hergebrachte Anschauung Tugenden nennt – genug, all die Grundideen Tolstojscher Ethik, die auch in seinen anderen dichterischen Werken zum Ausdruck kommen, und die erst im sechsten Jahrzehnt seines Lebens sich zu einer systematischen Weltanschauung verdichten sollten.
Aber trotz des scheinbar auf sittliche Ziele gerichteten Inhalts ist die Schilderung von ruhigster Sachlichkeit. Dem Dichter ist nichts gut, nichts böse; nicht zur Nachahmung aneifern will er in seinen Schilderungen der Tapferkeit, nicht abschrecken vom Bösen durch grausige Darstellung des Entsetzlichen, nicht einmal in den einzelnen Personen, die er handeln läßt, Muster kriegerischer Tugenden oder abschreckende Beispiele des Gegenteils vorführen. Die Menschen alle »können nicht die Uebelthäter, noch die Helden der Erzählung sein«.
»Der Held meiner Erzählung – sagt Tolstoj – den ich mit der ganzen Kraft meiner Seele liebe, den ich in ganzer Schöne zu schildern bemüht war, und der immer schön gewesen ist und immer schön sein wird – ist die Wahrheit.«
Erscheinen in dieser Hinsicht die Schilderungen der Sewastopoler Kämpfe gewissermaßen als eine kunstlose Wiedergabe der Wirklichkeit, so zeigt sich die berechnende Kunst des Dichters deutlich in der Steigerung, die in der Wahl der drei Momente liegt, die von entscheidender Bedeutung für den Krieg waren: die Zeit der Entwicklung, der Wendung und des tragischen Abschlusses.
Alle drei Skizzen sind unter den Eindrücken der Sewastopoler Leidenstage selbst geschrieben, in den Jahren 1854 und 1855. Zwischen ihnen liegt nur die Abfassung der kurzen Erzählung: »Der Holzschlag«.
Die Kritik nahm die Sewastopoler Skizzen mit Bewunderung auf. Sie waren das erste Werk Leo Tolstojs, das einen allgemeinen, unbestrittenen Erfolg hatte. Das lesende Rußland sah in den poetischen Schilderungen des Grafen Tolstoj nicht bloß interessante Thatsachen in der Wiedergabe eines Augenzeugen, nicht bloß begeisterte Erzählungen von Heldenthaten, die auch den Leidenschaftslosesten hätten fortreißen können; jeder Leser erblickte darin die Verherrlichung der nationalen Tapferkeit und die Verewigung ihres Andenkens.
Nie vorher hatte Rußland Soldatenschilderungen solcher Art gekannt. Skobelews vielgelesene Erzählungen waren unter den Vorurteilen einer schönfärberischen Vaterlandsliebe entstanden und sind die Schöpfungen einer mittelmäßigen Dichtergabe. Tolstoj strebte nach einer treuen Wirklichkeitsschilderung und besaß zugleich die Kraft, dem Alltäglichen den Charakter des Erhabenen zu geben.
R. L.
Sewastopol im December 1854
Eben beginnt die Morgenröte den Horizont über dem Ssapunberg zu färben; die dunkelblaue Meeresfläche hat bereits das nächtliche Dunkel abgestreift und erwartet den ersten Sonnenstrahl, um in glänzenden Farben zu spielen; von der Bucht her weht es kalt und neblig; es liegt kein Schnee, alles ist schwarz, aber der scharfe Morgenfrost greift das Gesicht an und macht die Erde unter den Füßen knirschen; nur das entfernte, unaufhörliche, bisweilen von rollenden Schüssen in Sewastopol übertönte Brausen des Meeres unterbricht die Stille des Morgens. Auf den Schiffen ist es still; die achte Stunde schlägt.
Auf der Nordseite beginnt allmählich die Ruhe der Nacht der Thätigkeit des Tages zu weichen: hier marschiert eine Wachablösung, mit den Gewehren klirrend, vorbei; dort eilt ein Arzt schon ins Lazarett; hier kriecht ein Soldat aus einer Erdhütte, wäscht sich mit eisigem Wasser das sonnenverbrannte Gesicht und betet, nach dem sich rötenden Osten gewendet und sich schnell bekreuzigend, zu Gott; hier schleppt knarrend eine hohe, schwere, mit Kamelen bespannte Madshara (tatarischer Bauernwagen) blutige Leichen, mit denen sie fast bis an den Rand beladen ist, zur Beerdigung auf den Kirchhof ... Wir gehen auf den Hafen zu, – hier schlägt uns ein eigentümlicher Geruch von Steinkohlen, Dünger, Feuchtigkeit und Fleisch entgegen; tausend verschiedenartige Gegenstände –