an.
Hinter ihr, im Frachtraum des Wagens, befanden sich vier Männer und die Waffe. Der Angriff auf Havanna war erstaunlich gut, sogar einfach, abgelaufen. Mit ein wenig Glück würden die kubanische und amerikanische Regierung annehmen, dass es sich um Tests hielt, doch ihre Waffe war schon reichlich getestet worden. Der Zweck des Attentats auf Havanna war weitaus mehr, es sollte Chaos erzeugen. Verwirrung sähen. Die Illusion einer rechtzeitigen Warnung schaffen, während die Mächtigen sich an den Köpfen kratzten und wunderten.
In der Nähe saß Mischa auf dem Bordstein hinter dem bunten Kastenwagen und zupfte gelangweilt an welkem Unkraut, dass sich seinen Weg durch die Risse im Asphalt gebahnt hatte. Das Mädchen war zwölf, normalerweise ernst, pflichtbewusst, leise und herrlich tödlich. Sie trug Jeans, weiße Turnschuhe und, fast komisch, einen blauen Kapuzenpulli, auf den das Wort BROOKLYN in weißen Buchstaben gedruckt war.
„Mischa.” Das Mädchen schaute auf, ihre grünen Augen waren dumpf und passiv. Samara streckte eine Faust aus und das Mädchen öffnete ihre Hand. „Es ist fast Zeit”, sagte ihr Samara auf russisch, als sie zwei Gegenstände in die kleine Handfläche legte - elektronische Ohrstöpsel, entworfen, um einer bestimmten Frequenz entgegenzuwirken.
Die Waffe an sich war unbeachtlich, sogar hässlich. Sähen sie die Waffe, so hätten die meisten keine Ahnung, was sie da anblickten, und dass solch ein Gerät überhaupt eine Waffe war - was nur zu ihrem Vorteil war. Die Frequenz wurde durch eine breite schwarze Scheibe ausgestoßen. Sie hatte einen Durchschnitt von einem Meter und war mehrere Zentimeter dick. Das erzeugte die ultra-tiefen Schallwellen in einem unidirektionalen Kegel. Der stärkste Effekt wurde in einem Bereich von etwa einhundert Metern gespürt, doch die schädlichen Auswirkungen der Waffe konnte man bis zu dreihundert Meter entfernt spüren.
Die schwere Scheibe war auf einen sich drehenden Apparat montiert, der sie nicht nur aufrecht wie eine Satellitenschüssel hielt, sondern durch den man sie auch in jegliche Richtung drehen konnte. Der Apparat war hingegen auf einen Stahlwagen mit vier dicken Reifen geschweißt, auf dem sich auch die Lithium-Ionen-Batterie befand, welche die Waffe mit Strom versorgte. Die Batterie allein wog schon dreißig Kilo. Alles zusammen, mit dem Stahlwagen, wog die Ultraschallwaffe fast hundertfünfzig Kilo, weshalb solche Waffen normalerweise auf Schiffen oder Jeeps angebracht waren.
Brächte sie jedoch ihre Waffe auf einem Fahrzeug an, so wäre sie dadurch wesentlich weniger mobil und viel auffälliger, weshalb die vier Männer im Kastenwagen notwendig waren. Jeder von ihnen war ein hoch-trainierter Kommando, aber in ihren Augen waren sie kaum mehr als glorifizierte Umzugshelfer. Wäre die Waffe leichter, einfacher bewegbar, dann hätten Samara und Mischa diesen Einsatz allein durchführen können, war sie sich sicher. Doch sie mussten das nehmen, was sie bekommen konnten und die Waffe war so kompakt wie möglich, wenn man ihre Leistungsfähigkeit bedachte.
Samara hatte sich wegen der Logistik ein paar Sorgen gemacht, doch bisher hatten sie keine Probleme damit gehabt. Sofort nach dem Attentat in Havanna hatten sie die Waffe über eine Rampe auf ein Boot gebracht, das sie nördlich nach Key West brachte. Auf dem kleinen Flugplatz wurde sie rasch auf ein Frachtflugzeug mittlerer Größe umgeladen, das sie nach Kansas City brachte. Alles war schon Wochen zuvor arrangiert, gekauft und bezahlt. Jetzt mussten sie nur noch den gründlichen Plan durchführen.
Samara schlenderte gelassen zur Ecke des Häuserblocks, während die Musik der Blaskapelle anschwoll. Jetzt konnte man sie sehen, wie sie auf sie zumarschierten. Der Kastenwagen war auf dem Bürgersteig vor dem Tante-Emma-Laden geparkt, zwei Autolängen von der Ecke entfernt, an der orangefarbene Verkehrskegel die Straße blockierten, um Platz für den Umzug zu schaffen.
Samara hatte gut recherchiert. Jedes Jahr organisierte das Gemeindecollege von Springfield einen Thanksgiving-Umzug, der von ihrer Blaskapelle angeführt wurde und einer umschweifigen Route folgte, die an einem örtlichen Park begann, sich durch das Städtchen wand und dann wieder zu ihrem Ursprung zurückkehrte. Ganz vorne schritt ein junger Tambourmajor, der einen lächerlich hohen Hut trug und einen Taktstock herzlich in einer Faust schwang. Nach der Blaskapelle marschierte das erfolglose Footballteam des winzigen Colleges, das von seinem Cheerleading Team gefolgt wurde. Hinter ihnen fuhr ein Cabrio, in dem der Bürgermeister und seine Frau saßen und dahinter die örtliche Feuerwehr. Ganz am Ende befanden sich die Mitglieder der Fakultät und der Leichtathletikverein.
Es war alles so übelerregend amerikanisch.
„Mischa”, sagte Samara erneut. Das Mädchen nickte kurz und steckte sich die elektronischen Stöpsel in die Ohren. Sie stand vom Bürgersteig auf und nahm eine Position in der Nähe der Fahrerkabine des Wagens ein, lehnte sich gegen die Fahrertür, um den Bereich der Frequenz zu vermeiden.
Samara zog ein Funkgerät aus ihrem Gürtel. „Zwei Minuten”, sprach sie auf russisch hinein. „Schaltet sie ein.” Sie hatte dem Team selbst russisch beigebracht und darauf bestanden, dass sie nur diese Sprache in der Öffentlichkeit benutzten.
Ein alter Mann in einem Fleecepullover zog die Stirn in Falten, als er an ihr vorbeiging. Es war etwa so seltsam russisch in Springfield, Kansas zu hören, wie einen Shar-Pei-Hund dabei zu beobachten, kantonesisch zu sprechen. Samara schielte düster zu ihm hinüber und er beeilte sich, weiterzukommen, hielt erst inne, als er die Straßenecke erreichte, um den Umzug anzusehen.
Es schien, als ob alle Einwohner zu dem Ereignis gekommen wären. Gartenstühle waren entlang mehrerer Häuserblocks aufgereiht, Kinder warteten eifrig darauf, die Süßigkeiten aufzufangen, die aus den Eimern geworfen würden.
Samara blickte über ihre Schulter zu dem Mädchen. Manchmal wunderte sie sich, ob noch ein paar Überbleibsel aus ihrer Kindheit in ihr waren. Ob sie die anderen Kindern mit einer Sehnsucht nach dem, was hätte sein können, anblickte, oder ob sie ihr fremd waren. Doch Mischas Blick blieb kalt und distanziert. Sollte es Zweifel hinter diesen Augen geben, so hatte sie gelernt, ihn expertenhaft zu verstecken.
Die Blaskapelle kam um die Ecke, die Bläser schmetterten und die Trommeln rasselten. Sie hatten Samara und dem Kastenwagen den Rücken zugewandt, als sie den Häuserblock entlangmarschierten. Junge Männer in Trikots folgten zu Fuß - es war das College-Footballteam, das Süßigkeiten in die Menge warf. Kinder sprangen hervor und bückten sich in Gruppen, um es aufzuschnappen, wie Geier, die sich auf einen Kadaver stürzen.
Ein winziger Gegenstand segelte auf Samara zu und landete in der Nähe ihrer Füße. Sie hob ihn zögernd zwischen zwei Fingern auf. Es war ein Karamellbonbon. Sie musste einfach grinsen. Was war das nur für eine unglaublich bizarre Tradition: die Kinder des reichsten Landes der Welt warfen sich auf die billigste Süßigkeit, die faul vor ihnen auf das Pflaster geworfen wurde. Sie hielt das Bonbon hoch. Ein Flimmer von Neugier huschte über Mischas junges, passives Gesicht, während sie es entgegennahm.
„Spasiba,” murmelte das Mädchen. Danke. Doch anstatt es auszupacken und es zu essen, steckte sie es in ihre Jeanstasche. Samara hatte sie gut trainiert. Sie bekäme ihre Belohnung, wenn sie sie verdient hätte.
Samara erhob das Funkgerät erneut an ihren Mund. „Beginnt in dreißig Sekunden.” Sie wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen zog sie sich die Ohrstöpsel an, doch ein leises, helles Geräusch summte in ihnen. Die vier Männer im Laderaum des Wagens würden den Rest erledigen. Sie mussten die Waffe nicht herausholen, sie mussten nicht einmal die Rolltür am Ende des Wagens öffnen. Die Ultraschallfrequenz war fähig, durch Stahl und Glas zu dringen. Selbst Backstein beeinträchtigte nur wenig ihre Effizienz.
Samara verschloss die Hände vor sich und stand neben Mischa, zählte still mit. Sie konnte nicht mehr die Blaskapelle oder den Applaus der Zuschauer hören, sie hörte nur den elektronischen Heulton der Ohrstöpsel. Es war komisch, so viel zu sehen, doch nichts zu hören, wie ein Fernseher, bei dem man den Ton ausgeschaltet hatte. Für einen Augenblick dachte sie an das lächerliche Sprichwort: Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand ist in der Nähe, um ihn fallen zu hören, macht er dann einen Laut? Ihre Waffe machte kein Geräusch. Die Frequenz war zu tief, um vom menschlichen Gehör wahrgenommen zu werden. Doch trotzdem würden Leute fallen.
Samara hörte weder die Musik noch den generellen Lärm der Menschenmenge. Sie hörte auch