Das Medaillon
Gina Mayer
edition oberkassel
2014
Wer bin ich? Asche, Staub und Koht
O grosser HErr! Das weistu woll;
Wer bin ich? Von Natur im Tod,
Ich bin das nicht, was ich seyn soll;
Und dennoch kommst du zu mir gehen
Mir als Erlöser beyzustehen?
Joachim Neander
(1650 – 1680)
Dezember 1907, Cleveland, Ohio
Alle anderen Gäste saßen in Gruppen zusammen, nur die alte Frau hatte einen Tisch für sich allein an einem der hohen Fenster, die auf den Eriesee hinausgingen. Die warme Wintersonne ließ ihr weißes Haar hellblond erscheinen und überstrahlte ihre Gesichtshaut, so dass diese ganz glatt erschien. Sie las.
So hat Großmutter ausgesehen, als sie eine junge Frau war, dachte June. Sie blieb am Eingang stehen, um sie in Ruhe betrachten zu können, aber im selben Moment hob die alte Frau den Kopf, als ob sie ihren Blick gespürt hätte. »Da bist du ja endlich.« Sie faltete ihre Zeitung zusammen und wies auf den freien Stuhl neben ihrem. »Was darf ich dir bestellen?«
»Eine Limonade.« June zog ihre Jacke aus und hängte sie über die Lehne des Stuhls, bevor sie sich niederließ. »Hast du lange gewartet?« Sie war in der Stadt gewesen und hatte Besorgungen erledigt, darüber hatte sie die Verabredung mit ihrer Großmutter am See fast vergessen.
Die alte Frau zuckte mit den Schultern, während sie ein Stuck Zucker in ihren Tee rührte.
»Was liest du?«, fragte June.
»Die Nachrichten.«
»Gibt es etwas Neues?«
»Die Welt wird immer feindseliger. Russland verstärkt nun die Franzosen an der Seite Englands. Ganz Europa schließt sich gegen Deutschland zusammen.« Sie seufzte, strich mit der flachen Hand über ihre Augen und sah plötzlich nicht mehr jung aus, sondern sehr alt.
»Hast du Angst um dein Heimatland?«, fragte June.
Ihre Großmutter lachte. »Mein Heimatland. Das ist so ein großes Wort. Deutschland hat sich so verändert, seit ich es damals verlassen habe.«
»Aber du sorgst dich dennoch. Dass es Krieg gibt«, beharrte June.
Die alte Frau blinzelte mit schmalen Augen über die funkelnde Oberfläche des Sees. »Sicher«, sagte sie, aber sie wirkte plötzlich geistesabwesend, als ob ihre Gedanken schon ein Stück weitergegangen wären. Dann drehte sie die Zeitung um und tippte mit dem Zeigefinger auf eine der Meldungen auf der letzten Seite. »Hier, siehst du das?«
»Urmensch in Deutschland entdeckt«, begann June zu lesen. »Die ältesten menschlichen Überreste der Welt sind im Oktober 1907 in einer Kiesgrube nahe der deutschen Stadt Heidelberg gefunden worden. Ein Sandgräber entdeckte einen sehr kräftig gebildeten menschlichen Unterkiefer mit vollständiger Bezahnung. Dieses Fragment des sogenannten Homo heidelbergensis wird von der Wissenschaft als das bisher älteste Fundstück einer primitiven Übergangsform zwischen Mensch und Affen bewertet.«
Achselzuckend schob sie die Zeitung wieder zu ihrer Großmutter zurück. »Für archäologische Ausgrabungen konnte ich mich noch nie erwärmen.«
Aber die alte Frau hatte ihr gar nicht zugehört, sie strich gedankenverloren über die Zeitungsseite, während sie hinaus auf den See blickte, als gäbe es dort draußen etwas zu sehen, das von ungeheurer Bedeutung für sie war, etwas, das June nicht sehen konnte.
»Was ist denn, Großmutter?«, fragte June
»Einmal«, sagte die alte Frau langsam. »Einmal haben wir uns über diese Frage fast entzweit. Ob es einen fossilen Menschen gibt. Und nun schreiben sie so nebenbei von Übergangsformen zwischen Menschen und Affen, als ob es nichts Besonderes wäre. Aber damals war es ein Eklat. Und es ist gar nicht lange her.«
»Wer hat sich fast entzweit?«, fragte June. »Sprichst du von dir und Großvater?«
Die alte Frau sah hinaus auf den See und antwortete nicht.
1. Kapitel
»Die horizontal übereinander liegenden Lager, die verschieden gefärbten und aus verschiedenartigen Stoffen gebildeten Schichten zeigen uns in grandiosen Schriftzügen die Geschichte der Vergangenheit. Die großen Erdkrisen scheinen daselbst von Gottes Hand verzeichnet zu sein. Hier fangen die Beweise an. Sie sind unwiderleglich, wenn es sich ergibt, dass das Werk des Menschen, das wir suchen, dieses Kunstprodukt, von dem ich behaupte, dass es dort liegt, sich eben daselbst schon seit der Ablagerung der Schichten befindet.«
(aus einem Vortrag von Boucher de Perthes vor der Pariser Akademie, 1839)
»Rosalie!« Dr. Kuhns dünne, ein wenig klagende Stimme folgte ihr die enge Gasse hinunter bis an die Ecke zur Hauptstraße. Sie blieb stehen und schaute zurück zum Haus, aber ihr Vater war nirgends zu sehen. Das Fenster zu den Praxisräumen stand offen. Sie zögerte einen Moment lang, dann kehrte sie um.
Er beugte sich aus dem Erdgeschossfenster auf die Straße herunter, in seiner ausgestreckten Hand wedelte ein Zettel hin und her. »Sei so gut und schau nach dem Markt noch in der Apotheke vorbei, besorg mir die Tinkturen, ich brauche sie hernach dringend.« Die blauen Augen hinter den konvexen Brillengläsern waren riesig und verschwommen wie seltsame Meeresfische. Sie nickte kurz und steckte das Rezept in eine Schürzentasche. »Ich bin aber nicht vor einer Stunde zurück.«
Sie hörte ihn noch etwas murmeln, während er ihr schon den Rücken zukehrte, das Gesicht dem nächsten Patienten zugewandt.
Der ganze Sommer 1856 war verregnet gewesen, auch jetzt im August war der Himmel bedeckt, es war viel zu kühl für die Jahreszeit. Sie fröstelte in ihrem dünnen Sommerkleid, als sie die Tür zur Apotheke aufstieß. Die Glocke oben am Türrahmen klingelte schrill und erschrocken. Der Laden war leer, wahrscheinlich war der alte Rinstermann oben in den Räumen, die er allein bewohnte. Es würde eine Weile dauern, bis er die Stufen heruntergehumpelt war, und noch länger, bis er mit seinen zittrigen, arthritischen Händen die Tinkturen zusammengemischt hätte. Rosalie fragte sich manchmal, ob er überhaupt noch in der Lage war, die einzelnen Einheiten genau zu bemessen.
Wie immer, wenn sie in der Apotheke war, begann ihr Herz schneller zu schlagen, während ihre Augen an den vertrauten Holzregalen entlangglitten, auf denen Seite an Seite weiße Porzellangefäße standen, darunter honigfarbene Glastöpfe mit weißen Etiketten, sorgfältig beschriftet mit lateinischen Namen in hellblauer Schrift. Ein Schrank mit quadratischen Schubfächern, hinter jedem halbrunden Messinggriff lag ein Geheimnis, das Heilung versprach oder den Tod brachte, je nach Art der Anwendung.
Die Küche der Medizin nannte ihr Vater die Apotheke. Rosalie, die die Apotheke mit allen ihren Rätseln liebte, empfand das als verächtliche Herabsetzung.
Auch heute, obwohl sie so in Eile war, atmete sie den halb bitteren, halb minzigen Geruch ein, der aus dem Nachbarraum drang, wo die Arzneien und Salben gemischt wurden, und schloss die Augen und stellte sich vor, dass es ihr Reich wäre, diese Apotheke, dass sie es wäre, die ihrem Vater die Tinkturen zusammenrührte und Pflaster strich.
»Ist Ihnen nicht recht gut?« Das war nicht die Stimme des alten Rinstermann. Rosalie riss die Augen auf. Hinter der Ladentheke stand ein junger Mann. Weißer Mantel, dunkle, halblange Haare, Bart. Er war ein Stück größer als sie, das gefiel ihr.
»Wo ist Herr Rinstermann?«, fragte sie.
Er lächelte. »Er hat sich zur Ruhe gesetzt, die Apotheke verkauft und ist nach Düsseldorf gezogen zu seiner Nichte.«
So plötzlich, dachte sie. In der vergangenen Woche hatte er ihr noch eine Salbe verkauft und keinen Ton davon gesagt, dass er sein Geschäft aufgeben wollte. Aber er war immer schweigsam gewesen, der alte Apotheker.
»Und Sie sind sein Nachfolger«, fragte sie und hörte, wie ihre Stimme mit jedem Wort an Höhe verlor. Irgendwo, ganz tief in ihrem Inneren, stellte sie fest,