Lucia Berlin

Abend im Paradies


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      Lucia Berlin

      Abend im Paradies

      Storys

      Aus dem amerikanischen Englisch von Antje Rávik Strubel

      Kampa

      Was zählt, ist die Story

      Ein Vorwort von Mark Berlin

      Lucia war eine Rebellin und eine bemerkenswerte Hand- werkerin, Gott hab sie selig, und zu ihrer Zeit tanzte sie. Ich wünschte, ich könnte all die Geschichten erzählen, darüber, wie sie zum Beispiel Smokey Robinson auf der Central Avenue in Albuquerque abholte und auf dem Weg zu seinem Auftritt in der Tiki-Kai-Lounge einen Joint rauchte. Sie kam spät nach Hause, noch ein bisschen Chanel unter dem Geruch nach Schweiß und Rauch. Auf Einladung eines rangniederen Älteren besuchten wir einen heiligen Tanz im Santo Domingo Pueblo in New Mexico. Als ein Tänzer stürzte, dachte Lucia, es wäre ihre Schuld. Unglücklicherweise war der gesamte Pueblo dieser Meinung, weil wir die einzigen Fremden waren. Jahrelang war das unser Totem fürs Unglück. Unsere ganze Familie lernte, wie man am Strand tanzt, durch Museen, in Restaurants und Clubs, und zwar so, als gehörten sie uns, wie man durch Ausnüchterungszellen und Gefängnisse und Preisverleihungen tanzt, mit Junkies, Zuhältern, Prinzen und Unschuldigen. Würde ich allerdings Lucias Geschichte erzählen, hielte man sie, auch wenn es sich um meine Perspektive handelt (objektiv oder nicht), für magischen Realismus. Niemand würde diesen Mist glauben.

      Meine erste Erinnerung an Lucia ist ihre Stimme, mit der sie meinem Bruder Jeff und mir etwas vorlas. Es spielte keine Rolle, um was für eine Geschichte es sich handelte, weil jeder Abend von einer Erzählung in ihrem weichen Singsang erfüllt war, gemischt aus den Sprachmelodien aus Texas und Santiago, Chile. Lieder wie »Red River Valley«. Klug und zugleich wie ein Volkslied, und glücklicherweise ohne das El-Paso-Näseln ihrer Mutter. Ich wäre sicherlich der Letzte gewesen, der mit ihr geredet hätte, und sie las mir ja vor. Ich erinnere mich nicht an das, was sie las (eine Buchrezension, etwas aus den Hunderten von Manuskripten, die die Leute ihr zu lesen gaben, eine Ansichtskarte?), nur ihre klare, liebevolle Stimme, waberndes Räucherwerk, Streifen des Sonnenuntergangs, danach saßen wir beide still da und schauten auf ihren Bücherschrank. Waren uns der Macht und Schönheit der Worte in diesen Regalen bewusst. Etwas, das man genießen und über das man nachsinnen sollte.

      Außer ihrem Humor und dem Schreiben erbte ich ihre Rückenprobleme, und wir klagten und lachten im Gleichklang, harmonisch, wenn wir nach mehr Cambozola, einem Cracker oder einer Weintraube griffen. Gejammer über Medikamente und Nebenwirkungen. Wir lachten über das erste Gebot des Buddhismus: Leben ist Leiden. Und über die mexikanische Ansicht, dass das Leben hart ist, ganz sicher aber Spaß machen könnte.

      Als junge Mutter schob sie uns durch die Straßen von New York: in Museen, zu Treffen mit anderen Schriftstellern, wollte, dass wir sehen, wie eine Druckmaschine funktioniert und wie Maler arbeiten, dass wir Jazz hörten. Und dann waren wir auf einmal in Acapulco, später in Albuquerque. Die ersten Haltestellen eines Lebens, das im Durchschnitt nie länger als jeweils etwa neun Monate in irgendeinem Lehmhaus verbracht wurde … Aber Zuhause war immer bei ihr.

      Das Leben in Mexiko ängstigte sie zu Tode. Skorpione, Würmer im Verdauungstrakt, herabfallende Kokosnüsse, korrupte Polizisten und gierige Drogenhändler; aber als wir am Tag vor ihrem Geburtstag in Erinnerungen schwelgten, hatten wir irgendwie überlebt. Sie überlebte drei Ehemänner und wer weiß wie viele Liebhaber; als sie vierzehn war, hatten Ärzte ihr gesagt, sie würde keine Kinder bekommen und nicht älter als dreißig werden! Sie brachte vier Söhne zur Welt, von denen ich der älteste bin und der, der die größten Schwierigkeiten machte, wir alle waren schwierig zu erziehen. Aber sie tat es. Und gut.

      Über ihre Alkoholabhängigkeit gab es viel Gerede, und sie musste gegen die Scham ankämpfen, die es mit sich brachte, aber am Ende lebte sie beinahe zwanzig Jahre nüchtern, Jahre, in denen sie ihre besten Texte schrieb und einen Großteil der jüngeren Generation durch ihren Unterricht inspirierte. Letzteres ist keine Überraschung, da sie seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr immer wieder unterrichtete. Es gab harte Zeiten, auch Zeiten voller Gefahr. Als es ihr richtig schlecht ging, fragte Ma sich laut, warum niemand kam und ihr die Kinder wegnahm. Keine Ahnung, aber wir sind gut geraten. In den Vorstädten wären wir alle verwelkt; wir waren die Berlin-Gang.

      Ein Großteil unserer Erfahrung ist unglaublich. Die Geschichten, die sie hätte erzählen können. Als sie beispielsweise in Oaxaca mit einem Malerfreund, von Pilzen berauscht, nackt baden ging. Sie flippten aus, als sie aus dem Wasser kamen, von Kopf bis Fuß grün vom Kupfer im Fluss. Unvorstellbar, wie sie in ihrem rosafarbenen Rebozo ausgesehen haben muss!

      Ich versuche gar nicht erst, das Junkie-Rehabilitationszentrum außerhalb von Albuquerque zu beschreiben (siehe ihre Erzählung »Streuner«) 1, aber stellen Sie sich Buñuel und Tarantino vor, die einen Film im Film drehen, in dem sechzig Hardcore-Ex-Knackis, Angie Dickinson, Leslie Nielsen, ein Dutzend Science-Fiction-Zombies und die zuvor bereits erwähnte Berlin-Gang vorkommen.

      Meine liebste Erinnerung ist die an einen Sonnenuntergang in Yelapa, der an Buddy Berlins Saxophon verglühte, an Bebop-Wolken und den Rauch vom Holzfeuer, während Ma auf einer Kochplatte aus Ton das Abendessen kochte, ihr Gesicht strahlend im korallenfarbenen Licht, Flamingos in der Lagune draußen auf der Jagd nach Fischen, die ihre Beine in die Hüften gestemmt hatten, das Geräusch der Brandung und das Klopfen der Frösche, das Knirschen des groben Sandbodens unter unseren Füßen. Hausaufgabenmachen beim Licht der Laterne und der kratzigen Billie Holiday.

      Ma schrieb wahre Geschichten, nicht unbedingt autobiografisch, aber treffend. Unsere Familiengeschichten und Erinnerungen formten sich langsam um, wurden verschönert und so weit überarbeitet, dass ich nicht sicher bin, was die ganze Zeit wirklich passierte. Lucia sagte, das spiele keine Rolle: was zähle, sei die Story.

       Mark Berlin, Lucias erster Sohn, war Schriftsteller, Koch, Künstler, Freigeist, er mochte Tiere und alles mit Knoblauch. Er starb 2005 .

      Spieluhr-Schminkkästchen

      »Gehorche der Zucht deines Vaters und verlass nicht das Gebot deiner Mutter. Denn solches ist ein schöner Schmuck deinem Haupt und eine Kette um deinen Hals. Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht.«

      Mamie, meine Großmutter, las es zweimal durch. Ich versuchte, mich an die Anweisungen zu erinnern, die ich bekommen hatte. Bohr nicht in der Nase. Aber eine Kette wollte ich trotzdem, eine, die klimperte, wenn ich lachte, wie die von Sammy.

      Ich kaufte eine Kette und ging zum Greyhound-Busbahnhof, wo eine Maschine etwas auf Metallscheiben prägte … einen Stern in die Mitte. Ich schrieb LUCHA und hängte sie mir um den Hals.

      Es war Ende Juni 1943, als Sammy und Jake mich und Hope an einer Sache beteiligten. Sie redeten mit Ben Padilla und schickten uns zuerst weg. Als Ben gegangen war, rief Sammy uns zu sich unter die Veranda.

      »Setzt euch, wir beteiligen euch.«

      Sechzig Karten. Auf der Oberseite jeder Karte war die mit Tinte gemalte Abbildung eines Spieluhr-Schminkkästchens zu sehen … Daneben gab es ein rotes Siegel, auf dem NICHT ÖFFNEN stand. Unter dem Siegel stand ein Name von der Karte. Dreiunddreißig Namen aus drei Buchstaben mit jeweils einer Zeile daneben. AMY, MAE, JOE, BEA usw.

      »Ein Los für einen Namen zu kaufen, kostet fünf Cent. Man schreibt den Namen der Person daneben. Wenn alle Namen verkauft sind, öffnen wir das rote Siegel. Die Person, die sich diesen Namen ausgesucht hat, gewinnt das Schminkkästchen.«

      »Verdammt viele Schminkkästchen!« Jake kicherte.

      »Halt’s Maul, Jake. Ich kriege diese Karten aus Chicago. Jede ist anderthalb Dollar wert. Ich schicke ihnen für jede einen Dollar, und sie schicken mir die Kästchen. Kapiert?«

      »Ja«, sagte Hope. »Also?«

      »Also kriegt ihr zwei einen Vierteldollar für jede Karte, die ihr verkauft, und wir kriegen einen Vierteldollar. Das macht uns zu Fifty-fifty-Partnern.«

      »So viele Karten können die gar nicht verkaufen«, sagte Jake.

      »Klar, können sie«, sagte Sammy. Er gab Hope die Karten.