ben Tag lang?“ fragte der kaiserliche Leibarzt Thaddäus Flugbeil, der mit seinem klugen, glattrasierten, faltigen Gesicht über dem altmodischen Spitzenjabot wie ein schemengleicher Ahnherr der Gräfin gegenüber in einem Ohrenstuhl kauerte, die unendlich langen, dürren Beine affenhaft fast bis zum Kinn emporgezogen.
Den „Pinguin“ nannten ihn die Studenten auf dem Hradschin[1] und lachten immer hinter ihm drein, wenn er Schlag 12 Uhr mittags vor dem Schlosshof in eine geschlossene Droschke stieg, deren Dach erst umständlich auf- und wieder zugeklappt werden musste, bevor seine fast zwei Meter hohe Gestalt darin Platz gefunden hatte. – Genauso kompliziert war der Vorgang des Aussteigens, wenn der Wagen sodann einige hundert Schritte weiter vor dem Gasthaus „Zum Schnell“ haltmachte, wo der Herr kaiserliche Leibarzt mit ruckweisen, vogelhaften Bewegungen ein Gabelfrühstück aufzupicken pflegte. —
„Wen meinst du“, fragte der Baron Elsenwanger zurück, „den Brock oder den Herrn Hofrat?“
„Den Herrn Hofrat natürlich. Was macht er so den ganzen Tag?“
„No. Er spielt sich halt mit den Kindern in den Choteks- Anlagen.“
„Mit ‘die’ Kinder“, verbesserte der Pinguin.
„Er – spielt – sich – mit – denen – Kindern“, fiel die Gräfin verweisend ein und betonte jedes Wort mit Nachdruck. Die beiden alten Herren schwiegen beschämt.
Wieder schlug der Hund im Park an. Diesmal dumpf, fast heulend.
Gleich darauf öffnete sich die geschweifte, dunkle, mit einer Schäferszene bemalte Mahagonitür, und der Herr Hofrat Kaspar Edler von Schirnding trat ein – wie gewöhnlich, wenn er zur Whistpartie ins Palais Elsenwanger kam, mit engen schwarzen Hosen angetan und den ein wenig rundlichen Leib in einen Biedermeiergehrock von hellem Braun aus wunderbar weichem Tuch gehüllt. Hastig wie ein Wiesel und ohne ein Wort zu verlieren, lief er auf einen Sessel zu, stellte seinen gradkrempigen Zylinderhut darunter auf den Teppich und küsste sodann der Gräfin zeremoniell die Hand zur Begrüßung.
„Warum er jetzt noch immer bellt?“ brummte der Pinguin nachdenklich.
„Diesmal meint er den Brock“, erläuterte die Gräfin Zahradka mit einem zerstreuten Blick auf Baron Elsenwanger.
„Herr Hofrat sehen so schweißbedeckt aus. Dass Sie sich nur nicht verkühlen!“ rief dieser besorgt, machte eine Pause und krähte dann plötzlich in arienhaften Schwingungen in das finstere Nebenzimmer, das sich daraufhin wie durch Zauberschlag erhellte:
„Bosena, Bosena, Bo-schenaah, bitt’ Sie, bring Sie, prosim, das Supperläh[2]!“
Die Gesellschaft begab sich in den Speisesaal und nahm um den großen Esstisch herum Platz.
Nur der Pinguin stolzierte steif an den Wänden entlang, betrachtete bewundernd, als sähe er sie heute zum ersten Mal, die Kampfszenen zwischen David und Goliath auf den Gobelins und betastete die prachtvollen, geschweiften Maria-Theresia-Möbel mit Kennerhänden.
„Ich war unten! In der Welt!“ platzte der Hofrat von Schirnding heraus und betupfte seine Stirn mit einem riesigen, rot-gelb-gefleckten Taschentuch. „Und bei der Gelegenheit hab’ ich mir die Haare schneiden lassen.“ – er fuhr sich mit dem Finger hinter den Kragen, als jucke ihn der Hals.
Derartige auf einen angeblich nur schwer zu bändigenden Haarwuchs abzielende Bemerkungen pflegte er jedes Vierteljahr zu machen, in dem Wahn, man wisse nicht, dass er Perücken trage – einmal langlockige, dann wieder kurzgeschorene – , und immer bekam er auch in solchen Fällen staunenerfülltes Gemurmel zu hören. Aber diesmal blieb es aus: Die Herrschaften waren zu verblüfft, als sie vernahmen, wo er gewesen sei.
„Was? Unten? In der Welt? In Prag? Sie?“ Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil war erstaunt herumgefahren. „Sie?“
Den beiden anderen blieb der Mund offen. „In der Welt! Unten! In Prag!“
„Da – da haben Sie ja ieber die Brücke missen!“ brachte die Gräfin endlich stockend heraus. „Was denn, wenn sie eingestirzt wäre?!“
„Eingestirzt!! No servus!“ krächzte Baron Elsenwanger und wurde blass. „Unberufen“ – er ging zittrig zur Ofennische, vor der noch aus der Winterszeit her ein Scheit Holz lag, nahm es, spuckte dreimal darauf und warf es in den kalten Kamin – „Unberufen.“
Bosena, das Dienstmädchen, in zerlumpten Kittel, ein Kopftuch um und barfuß, wie es in altmodischen Prager Patrizierhäusern üblich ist, brachte eine prunkvolle Schüssel aus schwerem getriebenem Silber herein.
„Aha! Wurstsuppe!“ brummte die Gräfin und ließ befriedigt ihre Lorgnette fallen. – Sie hatte die Finger des Mädchens, die in viel zu weiten, weißen Glacéhandschuhen staken und in die Brühe hineinhingen, für Würste gehalten. —
„Ich bin mit – der Elektrischen gefahren“, stieß der Herr Hofrat gepresst hervor, immer noch voll Aufregung des überstandenen Abenteuers eingedenk.
Die anderen wechselten einen Blick: Sie fingen an, seine Worte zu bezweifeln. Nur der Leibarzt zeigte ein steinernes Gesicht.
„Ich war vor dreißig Jahren das letzte Mal unten – in Prag!“ stöhnte der Baron Elsenwanger und band sich kopfschüttelnd die Serviette um; die beiden Zipfel standen hinter seinen Ohren hervor und verliehen ihm das Aussehen eines furchtsamen, großen, weißen Hasen. „Damals, als mein Bruder selig in der Teinkirche beigesetzt wurde.“
„Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag“, erklärte Gräfin Zahradka schaudernd. „Das könnt mich so haben! – Wo sie meine Vorfahren auf dem Altstädter Ring hingerichtet haben!“
„Nun, das war damals im Dreißigjährigen Krieg, Gnädigste“, suchte sie der Pinguin zu beruhigen. „Das ist schon lange her.“
„Ach was – ich denk’ es noch wie heite. Ieberhaupt die verfluchten Preißen!“ – Die Gräfin starrte geistesabwesend in ihren Suppenteller, befremdet, dass keine Würste darin waren; dann funkelte sie durch ihre Lorgnette über den Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.
Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor sich hin: „Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den Kopf abhaut. – Dass Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was, wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?“ fuhr sie laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.
„Den Preißen? – Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!“
„So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat’s ihnen halt wieder amal gegeben.“
„Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preißen“ – meldete sich der Pinguin – „will sagen: mit ‘denen’ Preißen – schon seit drei Jahren gegen die Russen verbündet und – “ („Ver- bin-dät!“-bekräftigte der Baron Elsenwanger. -) „– und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. – Er ist – “ Er brach höflich ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.
Das Gespräch stockte, und man hörte eine halbe Stunde lang nur noch das Klappern der Messer und Gabeln oder das leise klatschende Geräusch, wenn Bosena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen auftrug. —
Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: „Herrschaften! Wollen wir jetzt zum Whist – ?“
Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab – :
„Jesus, Maria – ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!“ – „Brock! Mistvieh, verfluchtes. Kusch dich!“ hörte man die halblaute Stimme eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die Veranda führte, geöffnet hatte. —
Eine Flut von Mondlicht ergoss sich in das Zimmer, und kühler Luftzug voll Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern flackern und schwelen.
Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder – bald gespenstisch halb verdeckt durch die silhouettenhafte Schlagschatten der