Norbert Möllers

Stojan findet keine Ruhe


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       Norbert Möllers

       Stojan findetkeine Ruhe

      © 2020 Norbert Möllers

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

      ISBN

Paperback:978-3-347-00062-9
Hardcover:978-3-347-00063-6
e-Book:978-3-347-00064-3

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Prolog

      Er hatte das Bild noch vor seinen Augen. Wie er dagestanden hatte, auf die große Bahnhofsuhr geblickt, seinen Gedanken nachgehangen. Wenn der Zug Verspätung hätte, die Türen nicht rechtzeitig schlössen, ein Rollstuhlfahrer oder ein Kinderwagen im Weg wären: das sei alles sein Pech, hatten sie ihm klargemacht. War gar nicht nötig gewesen, blöd war er ja nun mal nicht, nicht umsonst hatten sie ihn aufs Internat geschickt. Richtig die Sprache lernen, Benehmen lernen, Umgang mit den Wichtigen und den Richtigen. So wie Dejan, hatte er gedacht, das würde er schon schaffen. Und die Alte, natürlich, unwillkürlich musste er lachen, als er sich daran erinnerte. Was hatte er sich erschrocken, als sie ihn plötzlich ansprach: "Junger Mann, können Sie mir mal helfen? Ich muss da rein!" Er konnte sie gut imitieren, die Alte mit ihrem Rollator, er hatte schon so einiges mitgekriegt am Theater. Das war so komisch gewesen und die war so krumm und verbogen, und er hatte es niemandem erzählen können, dass er, Yasha, den Tag mit einer guten Tat begonnen hatte, bloß weil weit und breit kein anderer junger Mann zu finden war, der gemeint sein konnte. Er hatte noch oft daran gedacht, irgendwann musste er das mal jemandem erzählen. Überhaupt die ganze Geschichte.

      An Dejan hatte er gedacht, der hatte schon sein Viertel in Dortmund. Wo würde er mal der Boss sein? Und an Carlotta hatte er gedacht und den Spider, den er noch abzahlen musste, den sie sich verdient hatte. An Afrim hatte er nicht gedacht, Afrim war der Älteste von ihnen dreien. Vor Afrim hatte er Angst, früher nur Respekt vor dem großen Bruder, jetzt Angst.

      Er hatte nach der kleinen Kühltasche in seiner Jacke gefühlt, dem Insulinfläschchen auch, der Spritze, noch gedacht: „Warum nimmst du das Zeug eigentlich mit?“ Carlotta hatte nichts gemerkt, ihr Opa sowieso nicht. Er hatte sich einfach sicherer gefühlt so. Mit der Spritze. Wer weiß, wofür sie gut war. Sonst hätte er nur seine Hände gehabt.

      Der Zug war voller gewesen als die Woche zuvor, lauter Loser in Loserklamotten. Trotzdem war das easy gewesen, keiner hatte ihn richtig angesehen, höchstens die krumme Alte auf dem Bahnsteig. Wieder musste er lachen bei dem Gedanken, die hätte gegen ihn ausgesagt. Aber trotzdem easy, das Pferd auf dem Arm, hübsches Foto, er hätte es gerne behalten. Aber er hatte es in seinem Schädel eingebrannt, das komische Pferd. Was dann kam, hatte er nicht mehr so präsent, sicher, die Sporttasche, er glaubte, er hätte schließlich noch gute Reise gesagt, aber ja, doch, auch das wusste er wieder, das konnte er nicht vergessen, dass das gar keine Loserlady war, längst noch nicht.

      „Ich bin ein Losergirl“ hatte er gedacht, dass sie das hätte sagen können, ganz zum Schluss, wenn sie dann noch etwas hätte sagen können.

      Immer noch muss er warten. Immer noch im zweiten Glied. Das Losergirl reichte denen nicht. Die wollten auch die Loserlady. War ein bisschen dumm, die Gute. Und jetzt war er ihr bereits ziemlich nahe. Diesen Sommer, okay, den brauchte er noch. Dann aber ganzes Viertel, nicht nur halbe Straße. Hallo Loserlady, zeig mir dein Pferd, du hast doch auch eins? Lass es uns reiten. Im Theater vielleicht? Was darf ich dir mitbringen?

      1

      Samstag, 30.1.16

      Stojan hatte wieder eine Spur. Beim Stöbern gefunden. Nicht gesucht. Bestimmt nicht. Höchstens ein bisschen. Denn etwas in ihm war immer auf der Suche, nachts im Halbschlaf, tags beim Dösen oder während der Spaziergänge mit Fido, seinem Hund. Er las etwas und plötzlich hatte er eine Assoziation. Oder er rührte sich gerade etwas zusammen, eine Vinaigrette oder Hollandaise, und seine Gedanken wurden mitgerührt, wurden losgelassen, gingen auf die Reise, schlugen irgendwo an. Dabei ging schon mal etwas verloren, Pfeffer oder Kräuter in der Sauce, der rote Faden im Roman. Egal, da war er Fido ähnlich: Wenn sein Boxerrüde eine Spur verfolgte, wurde auch gerne ein Kommando ignoriert.

      Drei Fälle gab es, die ihn quälen konnten, ihn, der eigentlich seit fast zwei Jahren pensioniert war, außer Dienst, Kriminalhauptkommissar aD, wie es auf der Vorderseite der Visitenkarten stand, die ihm die Kollegen zum Abschied hatten drucken lassen. Diese Fälle konnten ihn quälen wie sich nie richtig schließende Wunden, die vielleicht mal etwas verschorft und überhäutet sind, aber nie so verheilt, dass der Arzt gesagt hätte: Jetzt brauchen Sie nicht mehr zu kommen, die Behandlung ist beendet.

      Es hatte auch längere Phasen in den letzten zwei Jahren gegeben, in denen er ganz entspannt war, keinen Kontakt zu seinem alten Team oder den alten Fällen suchte. Phasen, in denen er dicke Bücher las oder sein neues Digitalklavier mit kleinen Melodien nach uralten Noten, die er im Regal gefunden hatte, fütterte. Das war ihm dann wichtiger als wer wo seine DNA nicht hatte bei sich lassen können, wer warum gelogen hatte oder wessen Alibi plötzlich geplatzt war. Gerne erinnerte er sich an den Sprach- und Kochkurs in einer alten Villa in der Toskana, den er sich bald nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst gegönnt hatte, auch an die nette frisch und anscheinend glücklich geschiedene Lehrerin aus Lübeck. Wie hieß sie nochmal gerade, irgendetwas mit S, Sabine? Stefanie? Eigentlich schade, dass sie sich damals nicht nähergekommen waren; vielleicht könnte er einfach mal Signale aussenden? Ach ja, Jessica hieß sie. Sogar zwei S.

      Ein bisschen Langeweile bei eisiger Kälte im Hochsauerland, ein bisschen Nostalgie und, wie immer, ein bisschen Hoffnung, längst gewesene Zeit etwas umschreiben zu können, um damit eine der alten Wunden zu befrieden, hatten dazu geführt, dass er sich eines Samstagnachmittags mal wieder ins interne Polizeinetz eingeschmuggelt hatte, um durch ältere und frischere Nachrichten aus der Region zu surfen. Zwei Wochen war das jetzt her, seitdem versuchte er, seine Gedanken zu ordnen.

      Legal war das nicht, dieses unbefugte Eindringen, das war ihm ziemlich klar und ziemlich egal gewesen. Doch wenn Sonja jetzt Ärger oder ernste Probleme mit der Dienststelle bekäme, wollte er das nicht so gerne verantworten.

      Sonja war seine ehemalige Assistentin, die seine letzten acht Berufsjahre relativ angenehm gestaltet hatte, nicht nur wegen ihrer raschen Auffassung von Wesentlichem und Zusammenhängen, wegen ihrer Verlässlichkeit und Loyalität, sondern auch wegen ihrer ganzen Art, herzlich, freundlich, witzig, manchmal etwas frech, manchmal reichlich burschikos. Gelegentlich etwas weiblicher, hin und wieder mal chic angezogen, und natürlich nicht so ein grässlicher Musikgeschmack, mit dem sie seine Ohren regelmäßig quälte, wenn sie ihn in ihrem Wagen mitgenommen hatte nach Hagen oder Dortmund, ja, dann wäre sie sicher öfter in seinen Träumen aufgetaucht. Es war ihm schon lieber gewesen, wenn sie die aktuellen Bundesligaspiele kommentierte. Da konnte er zwar auch nicht richtig mitreden, aber sie tat das auf eine so herzerfrischend leidenschaftliche und witzige Art, dass Stojan sich bestens informiert und unterhalten fühlte. Dazu kam meistens noch ein bisschen aufgeschäumte, auf nette Art kokette Wut auf angebliche Fehlentscheidungen der Schiedsrichter und auf unglaubliches Pech mit Pfosten und Latte bei ihren Lieblingsvereinen. Da ihr Herz sowieso grundsätzlich für Underdogs und Außenseiter schlug, war entsprechend oft Ärger über verlorene Spiele Antrieb und Gewürz ihres Redens und Plapperns bis hin zur Unflätigkeit, sehr zum Amüsement ihres Zuhörers. „Mann, Chef, das hättest sogar du gemerkt, der Schiri war so blind, echt. Und das schönste: Der ist im richtigen Leben Zahnarzt. Ist das zu fassen? Ein blinder Zahnarzt, kannst du dir das vorstellen, würdest du zu einem blinden Zahnarzt gehen? Sag schon, Chef! Dir von dem einen Zahn ziehen lassen? Also. Ich habe nichts gegen Blinde, können die meisten ja nichts zu, aber blinde Zahnärzte, blinde Schiris, nee, Mann. Und blinde Autofahrer: Guck mal da vorne, der Cayenne, wenn Blinde auch noch Auto fahren,