Otto W. Bringer

Visionen des Fritz Piccolo und der Punkt über dem i


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      Otto W. Bringer

      Visionen des

      Fritz Piccolo

      und der Punkt

      über dem i

       Hautnah erlebt vonseinem Privatsekretär Justusund dessen Intimfreund

      Copyright: © 2020 Otto W. Bringer

      Satz: Erik Kinting — www.buchlektorat.net

      Umschlag & Foto: Otto W. Bringer

      Verlag und Druck:

      tredition GmbH

      Halenreie 40-44

      22359 Hamburg

      978-3-347-09932-6 (Paperback)

      978-3-347-09933-3 (Hardcover)

      978-3-347-09934-0 (e-Book)

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      Zum Verständnis.

      Justus ist mein Freund. Auch, und das ist wichtig, Privat-Sekretär des Fritz Piccolo. Der muss ein Tausendsassa sein. Justus erzählte, er habe in den Firmenakten gelesen, dass sein Vater ihn auf Exzellens-Universitäten der ganzen Welt geschickt hat, damit er der Beste aller Piccolos werde. Als Sohn eines Einwanderers habe er sonst keine Chancen. Als er endlich die Deutsche Staatsangehörigkeit besaß, ließ er den Vornamen seines Sohnes Federico in Fritz umschreiben. Justus meinte, er habe dabei den großen Preußenkönig Friedrich II. im Kopf gehabt. Den man im Volk den Alten Fritz nennt. Klein von Gestalt, aber ein großer König. Sein Sohn sollte ihn an Einfallsreichtum übertreffen. Und eines Tages so berühmt werden wie sein Namensvetter.

      Fritz selber, nicht auf den Kopf gefallen, studierte nicht nur Physik, Chemie, Biologie in Bologna, auch Romanistik an der Sorbonne in Paris. Theologie in Barcellona und Futurologie am Institut für außerirdische Phänomene in Lausanne. Jetzt ist er der Chef eines großen Unternehmens, das aus Stahlrohr alles nur Denkbare produziert. Die bekanntesten Artikel sind der Taschenschirm «Knirps», der Servierwagen «Dinett», den Beistelltisch «Variett». Außerdem noch Krankenhausbetten, Ladeneinrichtungen. Alle Nase lang ein neues Patent.

      Gut, dass Justus das Vertrauen seines Chefs besitzt.

      Bei allen Konferenzen dabei, das Resultat der Gespräche aufzuschreiben. Piccolo verlangte von einem der Teilnehmer am Schluss, es auf den Punkt zu bringen. Punkte seien seine Leidenschaft. Das Minimum vom Maximum, seine ständige Formel. Vielleicht kriegt Justus auch heraus, was er für Zukunfts-Pläne hat. Es würde mich sehr interessieren. Jedes noch so Geheimes wäre bei mir gut aufgehoben. Sind wir doch Blutsbrüder. Justus und ich hatten schon mit vierzehn Jahren beschlossen, Blutsbrüder zu werden. Nachdem wir in der Quarta die zweite Fremdsprache Französisch gelernt. Mark Twains Buch «Les Adventures de Tom Sawyers» im Original verschlungen.

      So schnell, wie der Daumen der linken Hand das Wörterbuch blättern konnte. Spannende Abenteuer, aber auch dramatische Situationen mit und ohne seinen Jugendfreund Huckleberry Finn erlebt. Bis der von seinem Vater auf eine einsame Insel im Mississippi entführt wurde. Um an dessen Vermögen zu kommen, das ihm eine dankbare Witwe geschenkt. Traurig endete das Buch, als beide auf dem Mississippi aneinander vorbei fuhren, ohne es zu wissen. Huck auf dem Floß, Tom auf einem Dampfer. Sie sahen sich nie mehr wieder. Da haben wir mit einer Rasierklinge eine Vene am Unterarm aufgeschlitzt und das Blut des anderen abgesaugt. Und beschlossen, aufeinander besser aufzupassen als Huck und Tom. Und uns nie zu trennen.

       Montag, 4. Februar 1986.

      „Justus, holen Sie mir die rote Mappe aus meinem Tresor. Wilhelmstraße 1. Erste Etage links. Dritte Tür rechts. Hier ist der Generalschlüssel. Mit dem kommen Sie ins Haus, die Wohnung, den Tresor und öffnen die Mappe.“ Letzeres sagt er, um Justus, seinen Privatsekretär, auf die Probe zu stellen.

      „Zuerst die Null tippen und mit dem Generalschlüssel den Tresor öffnen. Sie wundern sich über meine Geheimnummer? Ganz einfach. Alle Leute zermartern sich das Gehirn, eine möglichst komplizierte Nummernfolge auszudenken. Ich bin, wie Sie wissen, versessen auf einfache Lösungen. Schwören Sie, dass Sie diese Nummer niemandem weitersagen. Die Mappe mir ungeöffnet übergeben. Sonst werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh.“ Winkt mit der Hand – „nun gehen Sie schon, ich muss nachdenken.“

      Freund Justus erzählte es mir am selben Abend noch. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Als Blutsbrüder auch geschworen, Dinge, die uns direkt oder indirekt betreffen, niemandem zu verraten. Die rote Mappe, die er aus dem Tresor in der Wohnung des Fritz Piccolo holte, sollte die erste Gelegenheit sein.

      Von Justus weiß ich einiges über ihn und seine Firma. Fritz Piccolo ist der Chef eines Unternehmens, in dem seit über hundert Jahren die Familie Piccolo die Mehrheit besitzt. Ehefrau und Kinder Teilhaber. Fertigen nahtlose Rohre aus Stahl aller Durchmesser. Für Gas- und Wasserleitungen in Häusern. Daneben werden Schirme hergestellt. Im regnerischen Rheinland unentbehrliches Requisit. Fritz heißt nicht nur Piccolo. Piccolo, das Kleinste ist seine Passion. Piccolissimo schwärmen Italiener, schmecken sie einen Tropfen reines Olivenöl auf der Zunge. Ein Tröpflein Limone, das fehlt an der Meerbarbe. Hier aber hielte man es für eine Untertreibung.

      Für Fritz ist es Maxime: Größtmöglich zu denken, kleinstmöglich zu produzieren. Gedanken auf das substantielle Minimum zurückführen. Und alle Möglichkeinen ausschöpfen. Stahlrohre z. B. auf zwei Millimeter reduzieren. Und solche, die zwei Zehntel Millimeter größer sind im Durchmesser. Damit man die dünneren teleskopartig hindurchschieben kann. Für Konstruktionen, die es bisher nicht gab. Alternativ auch aus chrom-Nickel-Stahl oder Messing.

      Fritz Piccolo beschäftigt 3021 Mitarbeiter. Dreitausend wären genug gewesen. Aber die einundzwanzig mussten sein. Mit Einundzwanzig wurde Fritz volljährig und zum stellvertretenden Generaldirektor bestimmt. Vom Aufsichtsrat, der nur aus Mitgliedern der Familie bestand. Über ihm nur ein alter Onkel, der Sohn des Firmengründers im 19. Jahrhundert. Präzise am 13. Februar 1872. Ein Jahr nach der Reichsgründung durch Bismarck. Alle euphorisch ob der Einheit aller Deutschen. Und diese Euphorie wirkte sich aus auf den Unternehmergeist. Eisenhütten entstanden, Stahlwerke, um Gewehre zu produzieren, Kanonen zu gießen. Groß musste alles sein und vaterländisch konnotiert.

      Von Justus wusste ich, dass es Piccolo juckte, das Gegenteil zu tun. Kleines, scheinbar Unbedeutendes zu produzieren. Normale Bürger, vor allem Frauen erkannten sofort den Gebrauchswert und kauften. Schenkten es ihren Freunden und waren glücklich wie lange nicht. Schirme gab es schon immer, aber die waren groß und schwer. Klappten bei heftigen Winden nach hinten und man war im Nu bis auf die Haut durchnässt.

      Piccolos Schirme waren kleiner, sodass sie in eine normale Damen-Handtasche passten. Nicht viel dicker als ein Stock. Das Gestell stabil und elastisch gleichzeitig. Auf den roten Knopf am Griff gedrückt und schon springt das Schirmdach auf. Diagonale dünne Stahlrohre arretieren und verhindern, dass es umklappt.

      Als Fritz Piccolo die Alleinherrschaft übernahm, begann ein neues Zeitalter. Der Onkel tot, Geschwister, Cousins und Cousinen abgefunden. Er installierte eine Abteilung für Forschung und Entwicklung. Ihr Chef ein promovierter Physiker, Chemiker oder Mathematiker, jeweils nacheinander. Nicht lange danach auch einen Philosophen. Dann einen Theologen, in andere Richtungen denken zu lassen. Seine Idee, alles, was Menschen Geist ersinnen und erfinden kann, nacheinander zu testen. Für seine Zwecke zu nutzen, um der Größte zu werden und zu bleiben.

      In der ganzen Welt haben Piccolos, also kleine Leute, das Bedürfnis, größer zu sein als sie sind. Fritz keine Ausnahme dieser Regel. Da er aber geradezu fanatisch besessen war, das Äußerste zu wagen, riskierte er das genaue Gegenteil. Dachte groß und produzierte klein. Anders als andere Industriezwerge