Ulrich Vietmeyer

Moral - aus dem Nichts?


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      © 2020 Ulrich Vietmeyer

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN
Paperback:978-3-347-07431-6
Hardcover:978-3-347-07432-3
e-Book:978-3-347-07433-0

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      ULRICH VIETMEYER

      MORAL

      - aus dem Nichts?

       Ein Essay

       Für Johannes und Julius

      inhaltsverzeichnis

      Einleitung

      1. Anthropozän

      2. Die biologischen Grenzen

      3. Leidenschaft nach Erkenntnis

      5. Liebe und Sexualität

      6. Kunst

      7. Die Freiheit des Andersdenkenden

      8. Der Mensch im Spiegel

      9. Was ist richtig?

      10. Zwei offene Fragen

      Nachwort

      Playlist

      Einleitung

      „Du kommst aus dem Nichts und wirst ins Nichts wieder zurückgehen. Du verlierst also nichts.“ Selber am Kreuz zu hängen und trotzdem so etwas zu den anderen Gekreuzigten zu sagen, ist britischer Humor. Ebenfalls britischer Herkunft sind die Ideen, die in dieser Aussage pointiert zusammengefasst wurden. Sie sind 120 Jahre älter. „Monty Python’s Life of Brian“ erschien 1979, „On the Origin of Species“ von Charles Darwin 1859.

      Wohl jeder Mensch hat sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, woher er stammt. Dass wir aus dem Nichts stammen, ist eine neue Betrachtungsweise, die uns nicht leichtfällt. Die Evolutionstheorie und „Das Leben des Brian“ haben deswegen bis heute viele Kritiker. Einige fänden es gut, wenn es beide Werke nicht gäbe. Andere haben von ihnen immerhin gelernt, sich weniger wichtig zu nehmen. Aber zum Wohlfühlen reicht das nicht. Ein ganz erhebliches Unbehagen mit dem Nichts bleibt.

      Soweit wir wissen, ist die Erde 4,6 Milliarden Jahre alt und 9,2 Milliarden Jahre nach dem Urknall entstanden. Was vor dem Urknall war und was sein Auslöser gewesen sein könnte, wissen wir nicht. Dort irgendwo in diesem Nichts beginnt alles. Die Erde wird, so der aktuelle Stand unserer Wissenschaft, in 900 Millionen bis zwei Milliarden Jahren für jegliches Leben unbewohnbar sein. In etwa sieben Milliarden Jahren wird aus unserer Sonne ein roter Riese werden, in den die Erde abstürzt und verglüht. Wenn unsere Nachkommen also bis dahin nicht irgendwie das Weite gesucht haben, dann stehen sie eines Tages vor dem Nichts. Im Lichte dieser von der Wissenschaft gesetzten Anfangs- und Endpunkte der Menschheit stellen sich auch die alten Fragen neu. Wenn wirklich alles nichts ist, in einem derzeit nicht vorstellbaren Nichts begann und in einem sehr warmen Nichts enden wird, durch diese Tatsachen letztlich also alles entwertet und infrage gestellt wird, relativiert sich noch viel mehr. Warum sollte ich mich dann als Mensch richtig verhalten und wie ist es mir dann überhaupt möglich, noch zwischen richtig und falsch zu unterscheiden?

      Der Mensch als Art existiert seit etwa 300.000 Jahren. Erst seit etwa 160 Jahren haben wir die Evolutionstheorie und damit eine empirisch überprüfbare Entwicklungsgeschichte des Menschen. Charles Darwin und seine Zeitgenossen haben uns mit ihrer überaus akribischen Arbeit und wissenschaftlichen Sichtweise dazu gebracht, dass wir uns heute ganz nüchtern als Zufallsprodukte von zunächst physikalischen, dann chemischen und schließlich biologischen Entwicklungen verstehen. Darwin hat es gewagt, zu sagen, dass Mensch und Affen gemeinsame Vorfahren haben. Erst mit dieser Aussage wurde der Damm, den wir bis dahin zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen errichtet hatten, überspült. Es ist noch nicht lange her, dass wir neu erkannt haben, wer wir sind und wie wir wirklich entstanden sind. Selbst im Verhältnis zu der Zeitspanne der Geschichte im engeren Sinne, also den 6.000 Jahren, in denen menschliche Gedanken durch Schrift überliefert sind, sind die letzten 160 Jahre kaum mehr als ein kurzer Moment.

      Vor der Entdeckung der Evolutionstheorie war es für uns leichter, zu entscheiden, was richtig ist und was man tun muss, um ein glückliches Leben zu führen, denn wir hatten einen Ursprungsmythos und damit eine Instanz, die die Welt und uns erschaffen hat. Diese ließ uns wissen, was wir tun können und was wir besser lassen sollten.

      Diese Krücke, auf die wir uns zuvor stützen konnten, ist uns mit Darwins Erkenntnissen weggebrochen. Die Frage danach, wie ich mich richtig verhalte, damit ich glücklich werde und andere glücklich mache, muss heute anders beantwortet werden. Seit „On the Origin of Species“ brauchen wir neue Lösungen.

      Wissenschaftler graben in der Erde und lesen aus den Dingen, die sie dort finden, neue Geschichten, die zur Fortschreibung der Geschichte dienen. Sie entdecken immer neue Lebewesen, die mit uns diesen Planeten bewohnen, und erklären uns diese schöne Welt und ihre Bewohner immer wieder neu. Sie isolieren und analysieren die DNA unserer Vorfahren und der anderen Lebewesen und gewinnen auch hieraus immer wieder neue Einsichten. Sie zerteilen und analysieren die Substanzen, aus denen dieser Planet besteht, in immer kleinere Einheiten. Mittlerweile wagen sie hieraus schon Rückschlüsse, wie die Erde und das sie umgebende Weltall entstanden sind. Die Geschwindigkeit, mit der die Wissenschaft ihr Buch der Erkenntnis fortschreibt, ist atemberaubend.

      Die Beantwortung der Frage, wie wir uns als Individuen – beziehungswiese umfassender: als Gesellschaft und Menschheit – richtig verhalten, also die „Moral“ im denkbar weitesten Sinne, geriet dabei ins Hintertreffen. Sie wurde reduziert auf die Empfehlung, man solle durch sein Verhalten immer deutlich machen, dass einem das Wohlergehen der Mitmenschen und der kommenden Generationen ebenso am Herzen liegt wie das eigene. Aber die Wissenschaft gibt keine Antwort darauf, was genau dieses Wohlergehen ausmacht. Sie kann uns Kannibalismus beschreiben und erklären, dass es Gesellschaften und Riten gab, die Kannibalismus für das menschliche Wohlergehen für zwingend notwendig erachtet haben. Sie kann uns zudem vielleicht noch sagen, dass Kannibalismus zu Ernährungszwecken in extremen Notlagen für das eigene Wohlergehen leider unvermeidlich ist. Aber sie kann uns niemals sagen, wann Kannibalismus richtig und wann er falsch ist.

      Die Moralphilosophie war früher die Krone der Wissenschaft und das allumfassende Haus für die gesamte Forschung, denn Wissenschaft und Forschung dienten nur dazu, uns zu vermitteln, was richtig und was falsch ist. Früher war aber auch der Prozess des Erkennens anders. Die Erde, um die sich damals noch die Sonne drehte, war uns von Anfang an unveränderlich gegeben und neue Erkenntnis, auch in der Moralphilosophie, war nur das Entdecken des auf dieser Erde immer schon Dagewesenen. Dadurch, dass die Erde selbst ins Wanken geriet, weil sie zu einem unbedeutenden Planeten einer unbedeutenden Sonne in einer Galaxie mit einer Ausdehnung von 100.000 Lichtjahren in einem unendlichen Weltall wurde, relativierte sich auch das, was wir auf ihr noch entdecken können. Die Erde ist heute nicht mehr der Fixpunkt, von dem unser Erkennen, auch das Erkennen von richtig und falsch, ausgeht; vielmehr ist sie nur noch eine endliche Masse, auf der wir zufällig und gemeinsam mit vielen anderen Lebewesen aus wieder anderen Lebewesen entstanden sind und vermutlich auch wieder vergehen werden.

      So wurde die Moralphilosophie zu einem Waisenkind. Der Gleichschritt, in dem Wissenschaft und Moral nebeneinander hergingen, wurde zu einem Stolpern, nachdem Astronomie und Anthropologie und inzwischen praktisch die gesamte moderne Wissenschaft die Bedeutung der Menschheit relativierten. Aus einem Faustkeil oder aus dem Jochbein eines Australopithecus lässt sich nun einmal nicht herauslesen, ob es die Todesstrafe geben sollte oder für welche Delikte diese angemessen