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Schweizer Erinnerungenan die Zukunft
Novelle
Cyrill Delvin
Dies ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.
»Schweizer Erinnerungen an die Zukunft«
Zweite deutsche Ausgabe
Alle Rechte vorbehalten.
published by: tredition GmbH, Hamburg, www.tredition.de
Copyright © 2020 Cyrill Delvin
ISBN 978-3-347-11720-4
Aufzug
Erster Akt: Idyll und Sezession
2064 Die letzte Schlacht
2038 – 2060 Die Harten gegen die Linden
1984 Vor dem Wandel
1849 Die Karte
1900 – 1914 Zwischengesang
Zweiter Akt: Revision und Restauration
2067 Kindheiten
2069 Tendenz zunehmend – oder abnehmend
2070 Kalte Verdammung
2071 Die Gottesanbeterin
2072 Wachablösung
2074 Die Mauer
2075 Flüchtlinge
2076 Abstieg und Aufstieg
2077 Restzeit
2080 Fürst des Südens
2084 Gottesland
2094 Dazwischen: Nichts
2097 Die Wende
2098 Blutsauger (Der Durst)
2125 Doc. NO. 8234-2148
1989 – 2001 Zwischengesang
Dritter Akt: Destruktion und Bedeutungslosigkeit
2119 Raubzug (Die Pest)
2120 Angriff (Der Tod)
2121 Gegenangriff (Das Ende)
2126 Albert Schwarz
2182 Sophie Nansé
Abgang
Stammbaum
›Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.‹
Friedrich Schiller
Aufzug
1815 und 1847 veränderten die Schweiz. Danach galt sie als hoch industrialisiertes und freiheitlichstes Land im Herzen Europas. Sie hatte an den französischen und amerikanischen Revolutionen Anteil genommen, ohne mitzumachen. 1815 konsolidiert, entwickelte sich die Alpenrepublik zum wirtschaftlichen, technischen und politischen Zufluchtsort liberaler Kräfte aus ganz Europa. Sie repräsentierte das Beste aller Welten. Sie überstand alle Wirren, äußere wie innere, ohne den Kopf zu verlieren. Das ist das wahrhaftige Gründungswunder.
Die dem Land von den Großmächten Mitte des 19. Jahrhunderts verordneten Industrialisierung und Ökonomisierung riefen große, aber auch zwielichtige Figuren auf den Plan. Erschaffen wurden fantastische Bahnen genauso wie bizarre Finanzkomplexe. Unausweichlich damit verzahnt waren die in immer engeren Schlaufen wiederkehrenden, Gesellschaften und Länder verzehrenden Börsenkrisen. Eine Elite nach der anderen zerbrach. Dennoch entstand ein System, das, sich andauernd fortzeugend, ewigen Reichtum verhieß.
Der Glaube an den Fortschritt ersetzte den Glauben an die Herkunft. Die Progressiven besiegten die Konservativen. Zwar blutig, doch ohne eigentliche Verlierer. Ein Oberst Ochsenbein spielte eine verbindende Rolle. Ein Wilhelm Tell ebenso. Als Schweizer Freiheitskämpfer von einem deutschen Dichter inszeniert, um eine liberale, demokratische und auf naturalistischen Pfeilern gründende Revolution im Bedarfsfall auch durch Tyrannenmord zu bewahren: »… wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden … zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben. Der Güter höchstens dürfen wir verteid’gen gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land …«
1804 niedergeschrieben, als in Frankreich der nächste Kaiser sich selbst krönte und damit das vermeintlich Liberale und Demokratische der Revolution mit deren eigenen Waffe, der Guillotine, enthauptete.
So zog sich die Schweiz immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf, und es entstand 1848, in der Folge des Sonderbundskrieges von 1847, der moderne Bundesstaat. Gerne vergessen wir heute, wie fest dabei doch fremde Hände mitgezogen haben. In der Folge rankten Mythen um Selbstbehauptung, Freiheit, Neutralität, Frieden und fortwährende Prosperität. Diese wahrhaft geglaubten Gefühle waren Zutaten des Amalgams, das die Schweiz zum fortwährenden Sonderfall verschmolz.
Für immer? Wir werden sehen.
Erster Akt
Idyll und Sezession
2064
Die letzte Schlacht
Ich war allein. Ich war abenteuerlustig. Da kam mir die diplomatische Mission gerade recht. Sie führte mich in die eigenen und in fremde Archive und dann zu den Orten des Geschehens. Das war damals nicht ungefährlich, das Land war vom Auswärtigen Amt als Krisengebiet eingestuft gewesen.
Ich war naiv. Bereits die Recherchen im Zentralarchiv der Nordmächte enthüllten Dinge, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich hate mich im Glauben aufgemacht, die Geschichte der alten Schweiz zu kennen. Das Studium unveröffentlichter Dokumente über die Zeit der Sezessionswirren belehrte mich eines Besseren. Zweifel an der offiziellen Geschichtsschreibung überkamen mich. Der militärische Sieg der Revisionisten über die Harten hatte keineswegs zu der Eintracht geführt, auf der unsere Republik gegründet worden war. Vielmehr war es ein Pyrrhussieg gewesen, der den eigentlichen Wendepunkt der Schweiz begründete.
Je mehr ich herausfand, desto verworrener wurde es. Lag der Zweck meiner Mission wirklich in der Aufarbeitung unserer gemeinsamen Vergangenheit? Ging es nicht vielmehr um die Zementierung der offiziellen Sichtweise? Weshalb sonst waren diese Tatsachen so lange unter Verschluss geblieben?
Doch in einem Punkt hatten sich die Herren zu Hause gründlich in mir getäuscht: Mit meiner Naivität war es vorbei. Zum ersten Mal in meinem Leben war mein Jagdinstinkt geweckt.
Viktor Schwarz trieb nur ein Gedanke um, als er dem Kurier das Couvert mit der Aufforderung übergab, dieses seinem Sohn in Schwyz persönlich auszuhändigen. Darin befand sich die alte Ansichtskarte, die über Generationen in der Familie Schwarz weitergegeben worden war. Am Tag hätte er das Hotel, wo sie geschrieben worden war, von hier aus mit blossem Auge erkennen können, wäre es nicht schon vor Ewigkeiten niedergerissen geworden. Die Karte war eine Erinnerung daran, wo die Familie Schwarz hergekommen war und was für ein Idyll die Einwanderer einst hier vorgefunden hatten. Gleichzeitig war es die Mahnung daran, wofür die Sezessionisten zu töten und zu sterben bereit gewesen sind. Das ist es, woran Viktor Schwarz im letzten Führungsstützpunkt der Harten dachte: Hier also wird es enden.
»General Schwarz, der Stollen ist frei«
»Danke, Leutnant, geben Sie mir Alpha.«
Die Verbindung zum Einsatztrupp hinter der Feindeslinie war miserabel.
»Wie nahe?«
»Der Führerstand ist direkt voraus, hundert Meter.«
»Zielpersonen?«
»Warten auf Bestätigung.«
»Okay, Feuererlaubnis nach freiem Willen – der Schuss muss sitzen. Ist das klar?« Die Bitterkeit in seiner Stimme konnte nur erahnen, der wusste, wen er damit treffen wollte.
»Jawohl,