Max Beer

Jean Jaurès


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      Max Beer: Jean Jaurès. Sein Leben und Wirken

       Neu herausgegeben von Günter Regneri

       Veröffentlicht im heptagon Verlag

       Berlin 2020

       www.heptagon.de

       ISBN: 978-3-96024-027-3

       Das E-Book folgt der Buchausgabe: Max Beer: Jean Jaurès. Sein Leben und Wirken. Zur Erinnerung an seinen Todestag (31. Juli 1914), Verlag der Internationalen Korrespondenz. Berlin-Karlshorst 1915. Die Orthografie wurde behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst; offensichtliche Fehler im Druck wurden stillschweigend korrigiert.

       © heptagon Verlag 2020

      1  Unser Verlust.

      2  Die Lehrjahre.

      3  Die sozialistische Auffassung.

      4  Soziale Revolution, Sozialreform und Arbeiterklasse.

      5  Die äußere Politik.

      6  Die Ermordung von Jaurès.

      1. Unser Verlust.

      Der wahnwitzige Schuss, der den unvergleichlichen französischen Volkstribun am 31. Juli 1914 in Paris niederstreckte, erwies sich als das Vorspiel zu der erschütterndsten Völkerkatastrophe, von der die Menschheitsgeschichte zu erzählen weiß.

      Der 31. Juli 1914 – welch ein ominöser Tag!

      Der Weltfriede, die Vernunft, die Internationale, die Jaurès auf seiner herrlichen Laufbahn wie Sterne voran leuchteten, die er mit unwiderstehlicher Redegewalt, mit glühendem Herzen und unerbittlicher Logik verteidigte, wurde an jenem Tage durch die russische Mobilmachungsorder zu Boden gestoßen: Der Weltkrieg mit seinen unerhörten Schrecken und beispiellosen Opfern nahm seinen Anfang. Der sozialistische Staatsmann, der für eine selbständige, friedliche und würdevolle äußere Politik Frankreichs eintrat, der mit Seherauge sein Vaterland vor dem Revanchegedanken warnte und dessen Ausnutzung durch russische Abenteurer und englische Diplomatenschlauheit befürchtete, fiel an dem Tage, wo seine Befürchtungen sich zu schicksalsschweren Tatsachen verdichteten. Als er wenige Tage vor seinem Tode sah, dass Frankreich auf dem Sprung sei, sich in das schrecklichste aller Abenteuer zu werfen, lehnte er den russisch-französischen Bündnisvertrag glatt ab. Und in seiner letzten Friedensrede in Brüssel – in seinem Schwanengesang vor der versammelten Internationale – rief er aus: »Wenn man unseren geheimen Vertrag mit Russland anruft, so werden wir unseren öffentlichen Vertrag mit der Menschheit anrufen!« Ebenso war er bereit, dem englisch-französischen Einverständnis den Rücken zu kehren, sobald er sich überzeugte, dass die Briten in ihrem eigenen Interesse die französische Armee gegen Deutschland zu benutzen versuchten. In diesem Punkte war er sogar argwöhnischer als in dem des russisch-französischen Bündnisses.

      Jaurès, der Sendbote und Blutzeuge des Weltfriedens, war kein Friedensutopist. Als realistischer Politiker sah er die historischen, wirtschaftlichen und politischen Gegensätze, die die Nationen zu feindlichen Zusammenstößen führen könnten. Er sah die Notwendigkeit der nationalen Verteidigung und schrieb eines der besten Bücher über die Herstellung einer demokratischen Armee. Ebenso wenig schloss seine Liebe zur Menschheit die besondere Liebe zu Frankreich aus. Die Menschheit war ihm keine amorphe, unterschiedslose Masse, sondern ein Konzert von Nationen, von denen jede das Recht hat, ihre Eigenschaften und Kräfte im Licht der Freiheit und auf dem Boden der Gleichheit zu entfalten. Dies ist das Gebot der Gerechtigkeit. Dies war ihm der Sinn der französischen Revolution. Die Mittel zur Verwirklichung des Ideals der Gerechtigkeit bot ihm die sozialistische Politik, ohne die es keine Freiheit, weder persönliche noch nationale, geben kann. Die soziale Gerechtigkeit war sein Leitstern. In ihr erblickte er die notwendige und logische Fortbildung des Werkes der Männer von 1789 und des Nationalkonvents – die Vollendung der französischen Revolution, die für Jaurès die wichtigste Tatsache der Geschichte Frankreichs bildete. Er sah sich als der geistige Nachkomme und Erbe jener Männer, die die Überreste des Feudalismus, die die Bastille und den Absolutismus stürzten und die Menschenrechte proklamierten. Aber die Menschenrechte bleiben eine leere Form, ein Hohn auf die Wirklichkeit, wenn sie nicht mit sozialistischem Inhalt gefüllt werden. Erst die Abschaffung des Privateigentums und die Einführung eines genossenschaftlichen Gemeinwesens können den Menschenrechten die befreiende Kraft verleihen. Als Franzose, als Mann des Gedankens und der Tat, als geistiger Nachfolger Rousseaus, St. Justs, Marats und Dantons warf sich Jaurès mit aller Begeisterung in die sozialistische Agitation und stellte in deren Dienst seine glänzenden Gaben, seine große Persönlichkeit und sein enzyklopädisches Wissen.

      2. Die Lehrjahre.

      Mit demselben Recht wie Ferdinand Lassalle durfte Jean Jaurès von sich sagen, dass er mit dem ganzen Wissen seines Jahrhunderts ausgerüstet an die Untersuchung der modernen gesellschaftlichen Fragen herantrat. In ihrem titanenhaften Ringen glichen sich die beiden großen Sozialisten, ebenso in ihrem Scharfsinn, ihrer Beredsamkeit und ihrer Arbeitskraft. Aber Jaurès stand gefestigter und bodenständiger als Lassalle da. Er hatte nichts vom Abenteurer in sich, auch nichts des Meteorhaften: Jaurès schien ganz natürlich aus dem französischen Kulturboden emporgewachsen zu sein, ein neuer mächtiger Zweig am Wipfel eines festverwurzelten Baumes. Die lange Kette nationaler Überlieferungen, die gleichmäßigere Entwicklung und normalere Erziehung, die wundervolle Harmonie der geistigen und körperlichen Kräfte, das Aufgehen in der französischen Geschichte verliehen dem Franzosen eine Charakterfestigkeit und eine fast bäuerliche Zähigkeit, die ihn vor Abwegen schützten und in allen Erschütterungen und Stürmen nicht das Ziel aus dem Auge verlieren ließen.

      Jaurès wurde am 3. September 1859 in Castres, Languedoc, geboren – in jener merkwürdigen Provinz Südfrankreichs, die so viele Ketzer, Freidenker und Gelehrte hervorbrachte. Languedoc besaß im Mittelalter freie Handelsstädte; dort waren die Albigenser zu Hause; im 18. und 19. Jahrhundert gab diese Provinz den Franzosen so berühmte Männer wie Lafayette, Guizot und August Comte. Die Familie Jaurès gehört der Mittelklasse an; eines ihrer Mitglieder war Constans Jaurès (gest. 1889), Admiral und Botschafter in Madrid und St. Petersburg. Die Eltern von Jean Jaurès waren nicht wohlhabend, und nur dem finanziellen Beistande des Schulinspektors Felix Deltour war es zu verdanken, dass Jean höhere Unterrichtsanstalten besuchen konnte. Schon als Gymnasiast zeichnete er sich durch große Beredsamkeit aus, wobei ihm ein außerordentlich scharfes Gedächtnis zu Hilfe kam. Im Jahre 1881 absolvierte er die École Normale in Paris, und zwei Jahre später war er Professor der Philosophie an der Universität von Toulouse. Im Jahre 1885 begann seine politische Laufbahn. Er wurde in die Kammer gewählt, übersiedelte nach Paris, wo er gleichzeitig seine philosophischen Studien fortsetzte und mit der sozialistischen Gedankenwelt Fühlung nahm. Die Früchte dieser Arbeiten liegen in zwei Schriften aus dem Jahre 1891 vor. Eine – in französischer Sprache geschrieben – behandelt die Realität der sinnlich wahrnehmbaren Welt; die andere – in lateinischer Sprache – beschäftigt sich mit dem Ursprung des deutschen Sozialismus. Jaurès, dessen geistige Väter Plato, Spinoza und Kant sind, bringt die deutsche Sozialdemokratie nicht mit dem Materialismus der Links-Hegelianer in Verbindung, sondern lässt ihn aus dem deutschen Idealismus hervorgehen. Der Stammbaum des deutschen Sozialismus gehe zurück auf Luther, Kant, Fichte und Hegel. Die Ereignisse fließen aus den Ideen, die Geschichte hängt von der Philosophie ab. Auf den ersten Blick würde man annehmen, dass der Sozialismus besonders in England geblüht haben müsste, da doch in diesem Land die moderne Wirtschaftsweise am unverschämtesten und am frühesten sich entfaltete. In England hätte man den wirtschaftlichen Prozess