Alle sprachen Deutsch, und Deutsch wurde auch untereinander gesprochen. Sie legte es auf den Tisch. Sicherlich würde es Abend werden, bis die Familie zusammenfinden würde. Kilian war mit Großvater Willi beim Vieh. Kilians Eltern waren in die Stadt zum Einkaufen gefahren. Kilians Schwestern waren auch nicht da. Sie besuchten mit ihrer Großmutter Verwandte auf der Nordinsel in Wellington und würden erst wieder in zwei Wochen kommen.
Der Tag verging. Die Sonne stand tief, als die einzelnen Familienmitglieder wie auf Verabredung heimkamen. Sie zogen sich um und setzten sich an den Tisch. Großvater Willi saß an einem Tischende, sein Enkel Kilian am anderen Ende.
Willi Bernreither hatte das Fax bereits gesehen. Sein Herz schlug schneller, als er das Wort »Waldkogel« auf dem Briefkopf von Pfarrer Zandlers Schreiben las. Er legte es zur Seite.
»Vater, was Wichtiges?« fragte seine Tochter.
»Post von daheim! Aber des kann warten! Ich habe sechzig Jahre keine Post erhalten, jetzt kommt es auf die halbe Stunde auch nicht an.«
Alle schauten sich stumm an. Der Großvater übersah die Blicke. Er faltete die Hände.
»Kilian! Du übernimmst das Tischgebet!«
Ein Blick des Erstaunens huschte über das Gesicht des Enkels. Bisher war es immer Großvater Willi gewesen, der das Tischgebet gesprochen hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis Kilian sich gesammelt hatte, dann kam er der Bitte seines Großvaters nach.
Das Abendessen verlief fast schweigend. Spannung lag in der Luft. Jeder machte sich so seine Gedanken. Mary warf ihrem Vater Seitenblicke zu. Doch dessen verschlossener Gesichtsausdruck riet ihr, ihn nicht zu bedrängen. Sie aßen zu Ende. Das Hausmädchen räumte ab.
Willi Bernreither seufzte. Er setzte seine Lesebrille auf. Dann griff er nach den Blättern. Er lehnte sich zurück und las. Seine Augen blitzten von Zeile zu Zeile. Wenn er mit einer Seite fertig war, dann legte er sie mit der Schrift nach unten auf dem Tisch ab und las das nächste Blatt.
Endlich war er fertig.
Seine Tochter Mary, ihr Mann Bill und Enkel Kilian schauten ihn erwartungsvoll an.
Willi Bernreithers Gesichtszüge ließen keine Schlüsse zu. Unbeweglich saß er auf der Eckbank. Sein Blick war weit in die Ferne gerichtet. Sein ganzes Leben lief vor ihm ab. Die Erinnerungen an Waldkogel, die er jahrelang verdrängt hatte, holten ihn mit Macht ein.
Er trank einen Schluck Bier.
»Ja, die Vergangenheit hat mich eingeholt. Ich habe mir nicht gewünscht, daß es einmal so kommt. Aber keiner kann sich im Leben alles aussuchen. Da muß ich jetzt durch!«
Seine Tochter, die neben ihm saß, legte ihm behutsam die Hand auf den Unterarm.
»Vater! Was ist? Kann ich dir helfen? Kann Bill etwas für dich tun oder Kilian? Nun, rede schon! Ich sehe doch, wie bewegt du bist.«
Willi Bernreither tätschelte die Hand seiner Tochter.
»Danke, Mary! Es ist nix Schlimmes. Ich bin nur überrascht. Doch eigentlich müßte ich es nicht sein.«
Willi Bernreither zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er nahm ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier heraus.
»Die Todesanzeige habe ich schon vor Monaten aus der Zeitung ausgeschnitten!«
Mary wußte, daß ihr Vater sich seit vielen Jahren die Wochenzeitung aus Kirchwalden schicken ließ. Er bezahlte sogar das Porto für die Luftfracht.
Willi legte das kleine Stück Papier auf den Tisch und glättete es mit den Händen. Dann schob er es seiner Tochter hin. Sie las es gemeinsam mit ihrem Mann Bill. Dann las es Kilian.
»Großvater! Wer war dieser Hans Bernreither? Ich dachte, du hättest keine Verwandten mehr? Ich dachte, sie wären alle tot.«
»Bub, für mich waren sie das auch!«
Willi kämpfte mit seinen Gefühlen.
»Das, was mir der Hans damals angetan hat, das war schlimm. Es hat lange gedauert, bis ich darüber hinweg war. Das war erst, als ich deine Großmutter kennenlernte und mit ihr hierher nach Neuseeland bin. Wir heirateten und ich baute hier den Bernreither Hof.«
Er räusperte sich.
»Der Bernreither Hof, der schaut fast genauso aus wie der Bernreither Hof in Waldkogel. Eigentlich könnte ich sagen, daß das hier der neue Bernreither Hof ist und der in Waldkogel ist der alte Bernreither Hof.«
Willi zuckte mit den Schultern.
»Ich will euch jetzt nicht die Einzelheiten erzählen, warum ich damals als junger Bursche fort bin, warum ich in die Welt hinaus geflohen bin. Das ist Vergangenheit. Gegenwart ist, daß ich eine Entscheidung treffen muß. Dieser Hans Bernrei-ther war mein Zwillingsbruder. Er ist verstorben und hat keine Angehörigen. Also haben der Bürgermeister und der Pfarrer von Waldkogel nach mir gesucht. Aber lest selbst, genug Deutsch könnt ihr ja.«
Willi schob die Blätter seiner Tochter Mary hin. Sie las. Wenn sie mit einer Seite zu Ende war, gab sie sie an ihren Mann weiter. Er las sie und reichte sie Kilian. Währenddessen beobachtete Willi seine Angehörigen.
»Dann hast du dein Elternhaus geerbt, Großvater, wenn ich das richtig verstehe, wie?«
»Ja, das habe ich! Jetzt muß ich entscheiden, was damit geschehen soll. Ich kenne mich mit den Erbsachen in Deutschland nicht aus, weiß nicht, wie das heute so ist. Tatsache ist, daß ich mich dazu erklären muß. Außerdem haben die beiden, der Pfarrer, wie auch der Bürgermeister, viel Mühe auf sich genommen, mich zu finden.«
»Willst du nach Deutschland fliegen, Großvater?«
Willi Bernreither spürte, wie sein Herz klopfte. Es gibt immer noch Bande. Auch wenn ich mich noch so wehre, meine Wurzeln liegen in Waldkogel.
»Wenn ich das von hier aus regeln kann, dann ist mir das lieber!«
Mary stand vom Stuhl auf und setzte sich neben ihren Vater auf die Eckbank. Sie legte ihren Arm um seine Schultern.
Zärtlich sagte sie:
»Vater, in diesem Augenblick verstehe ich dich so gut wie nie in meinem Leben. Jeder Mensch hat Ecken und Kanten. Oft habe ich dich nicht verstanden. Jetzt weiß ich, daß ein Geheimnis auf deiner Seele lag. Doch was sagst du immer: Es gibt nicht nur Böses und Schlechtes, sondern viel, viel mehr Gutes und Schönes. Dein Zwillingsbruder Hans ist tot. Was auch immer geschehen ist, über das du nicht sprechen willst, sicherlich gibt es auch schöne und sehr glückliche Erinnerungen an den Bernreither Hof in Waldkogel. Du bist sehr rüstig! Wenn du hinfliegen willst, dann begleite ich dich gerne. Vielleicht wird dein Herz versöhnt, wenn du dir Erinnerungsstücke holst.«
Willi streichelte seiner Tochter die Wange.
»Bist ein gutes und mitfühlendes Madl! Aber die Entscheidung muß ich jetzt nicht treffen. Ich werde den Pfarrer morgen anrufen, nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe. Ich habe mir hier in der Fremde ein Leben aufgebaut, hier in den schönen Neuseeländer Alpen. Was soll ich mit dem alten Bernreither Hof? Wenn ich das Erbe antrete, dann werde ich den Hof verkaufen. Aber diese Entscheidung muß ich heute auch nicht treffen. Reden wir morgen weiter.«
Alle sahen, wie aufgewühlt Willi war, obwohl er sich große Mühe gab, ruhig zu wirken. Er stand auf und ging hinaus vor das Haus. Er setzte sich auf die Bank und sah hinauf zu den Gipfeln der Berge. Doch in Gedanken sah er nicht sie, sondern den »Engelssteig« und das »Höllentor«, die Berge von Waldkogel.
Mary, die ihren Vater gut kannte, riet, ihn alleine zu lassen.
»Dann gehen wir zur Tagesordnung über«, sagte Bill. »Ich mache noch meine Abendrunde über den Hof. Du, Kilian, schaust nach den Schafen.«
So geschah es dann auch. Anschließend saßen sie noch etwas zusammen und redeten. Dann gingen sie schlafen. Willi nickte ihnen nur zu, als sie ihm »Gute Nacht« sagten. Er blieb auf der Bank vor dem Haus sitzen.
*
Kilian