Britta Laubvogel

Wenn die Liebe Trauer trägt


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23, gesungen von Bruce Miller, senkt sich tröstend in meine Seele. Und doch habe ich den Eindruck, als schaute ich mir selbst zu und bin gar nicht wirklich anwesend. Zu unwirklich ist alles. Später bitte ich den Dekan, mir den Text der Ansprache zu geben, auch die Nachrufe lasse ich mir zuschicken, um alles noch einmal in Ruhe lesen zu können.

      Und dann bewegen wir uns in einem großen Trauerzug von der Kirche zum Friedhof. Die Straße entlang, am Bäcker vorbei, eine kleine Gasse hinauf zum Friedhof. Die Autos halten an. Als würde der Tod die Menschen zum Innehalten mahnen, als würde die Zeit stillstehen.

      Dieser Januartag ist so entsetzlich kalt. Wir stehen am offenen Grab. Ein Erdhaufen, daneben eine Schaufel, ein Korb mit Blüten. Die Worte: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“ treffen mich in ihrer ganzen Wucht. Jetzt ist der Moment gekommen, an dem wir endgültig Abschied nehmen von Matthias, seinen Körper der Erde und seinen Geist Gott überlassen. So schwer es fällt, Erde ins Grab zu werfen, hilft mir diese symbolische Handlung, den Abschied zu vollziehen. Im Nachhinein habe ich gerade in diesem Ritual eine heilende und stützende Kraft empfunden. Das gemeinsam gesprochene „Vaterunser“ verbindet uns alle am Ende. Noch lange stehe ich mit meinen Kindern und den nächsten Angehörigen am Grab. Die Kälte kriecht in meine Glieder, ich spüre mich schon gar nicht mehr. Bin wie zum Eiszapfen erstarrt. Auch innerlich. Keine Träne kann fließen, das irritiert mich. Ich möchte hier am Grab stehen bleiben, bis auch die vielen jungen Menschen, Freunde unserer Kinder, Schüler, Konfirmanden, Mitglieder aus der Jugendgruppe bei uns waren.

      Eine stille Umarmung, ein tröstendes Wort, eine liebevolle Geste, ein stummes Beileid, mir manchmal auch verstohlen in die Hand geschoben – alles drückt mich tiefer in meine schwarzen Schuhe. Und doch hilft es mir, auf dem Boden anzukommen, auf dem ich nun stehe: im Haus meiner Trauer.

      Mit diesem Tag begreife ich in seiner ganzen Härte, dass der Abschied auf dieser Erde vollzogen worden ist und für mich ein anderes Leben beginnt. Obwohl ich oft denke: „Jeden Moment müsste doch die Tür aufgehen und Matthias hereinkommen. Wann ist der Albtraum endlich vorbei?“ Auf der Straße sehe ich einen Mann von hinten, der Hinterkopf, selbst die Haltung und Gestik: genau wie Matthias. Ich spüre ihn fast körperlich anwesend, doch dann diktiert mir mein Verstand erbarmungslos: „Das ist nicht wahr. Kann gar nicht sein.“ Eine Sinnestäuschung, die mir umso brutaler klar macht: Matthias lebt nicht mehr. Er wird nicht um die Ecke kommen.

       Jost:

      Ja, so hart es klingt, die Beerdigung mit ihren Ritualen hilft, die Realität des Todes anzuerkennen: „Erde zu Erde, Staub zum Staub …“ Wenn Patienten mich fragen, ob sie ihre Kinder mit zur Beerdigung nehmen sollen, dann rate ich immer zu. Wie sollen Kinder mit dem Tod umgehen, wenn sie außen vor gelassen werden? In ihrer Fantasie malen sie sich oft viel schlimmere und beängstigendere Dinge aus, als sie bei der realen Trauerfeier erleben. Wenn man diese gemeinsam begeht, kann man mit den Kindern auch viel besser darüber reden, sofern sie es wollen. Oft fragen mich Trauernde auch, ob sie oder ihre Kinder den Verstorbenen noch einmal sehen sollten oder ihn doch lieber so in Erinnerung behalten sollten, wie er zu Lebzeiten war. Um im Trauerprozess weiterzukommen, kann es sehr hilfreich sein, den Verstorbenen noch einmal zu sehen. Man spürt dabei oft sehr deutlich: Das ist nur noch die sterbliche Hülle. Das Eigentliche, was diese Person ausgemacht hat, ihre „Seele“, ist jetzt woanders. Diese Konfrontation ist ein weiterer Schritt, ein Ja zur harten Wirklichkeit zu finden. Dies gilt in der Regel auch für Kinder.

      Menschen erleben den Tod oft wie einen Hammerschlag. Das ist kein leises Eintreten in das Haus der Trauer, sondern eher ein gewaltsames Hineingestoßenwerden gegen den eigenen Willen.

      Die Realität des Todes anzuerkennen ist ein Prozess, der Zeit braucht. Der ist bei der Beerdigung noch lange nicht abgeschlossen.

      Die Realität des Todes anzuerkennen ist ein Prozess, der Zeit braucht. Der ist bei der Beerdigung noch lange nicht abgeschlossen.

      Die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast unterteilt den Trauerprozess in mehrere Phasen und sieht als erste die Phase des Nichtwahrhabenwollens. „Sag, dass das nicht wahr ist …“

      Trauerspezialist William Worden spricht von Traueraufgaben. Die erste: den Tod als Realität akzeptieren. Das ist ein Prozess. Es ist völlig normal, dass der Trauernde zunächst oft das Gefühl hat, gleich kommt der geliebte Mensch um die Ecke. Gerade hat man ihn doch gehört. Gleich wird er im Zimmer stehen. Man sieht den Verstorbenen auch in anderen Menschen und denkt, er ist gerade in der Stadt an mir vorbeigegangen. Die Realität des Todes akzeptieren, das muss sich in unendlich vielen kleinen Alltagssituationen bewähren. Und in jeder bricht der Schmerz neu auf.

      Sich dem Tod stellen – das muss aber nicht heißen, dass der Tod das Letzte ist und das Ende bedeutet. Ich denke an die Worte Dietrich Bonhoeffers, bevor er von den Nazis gehenkt wurde. Er rief seinen Mördern zu: „Das ist das Ende, für mich der Beginn eines neuen Lebens.“ Und seine Wächter waren fassungslos, wie gelassen und gefasst dieser Häftling seiner Hinrichtung entgegenging. Der vorher noch betete und sein Leben in Gottes Hände legte. Gott ist der Herr über Leben und Tod, dieser Glaube entmachtet den Tod. Der Tod ist dann nicht das Letzte, sondern das Vorletzte.

      Sich dem Tod stellen – das muss aber nicht heißen, dass der Tod das Letzte ist und das Ende bedeutet.

      Wir haben in diesem Buch „Wenn die Liebe Trauer trägt“ für den Trauerprozess bewusst ein Bild gewählt, das Bewegung ermöglicht. In einem Haus kann ich die Räume durchschreiten. Wie lange ich in den einzelnen Räumen verweilen will, kann ich selbst bestimmen. Ich persönlich liebe es nicht so sehr, in einem Museum von A bis Z durch alle Räume geführt zu werden. Vielmehr möchte ich selbst entscheiden, wie lange ich wo bleibe. Manchmal betrachte ich nur ein einziges Bild und ignoriere alle anderen, verschaffe mir in einem anderen Raum einfach nur einen groben Überblick. Ich nehme bestimmte Bilder, Skulpturen intensiv wahr, und andere sprechen mich nicht besonders an. So ist es auch mit dem Haus der Trauer. Die verschiedenen Räume müssen nicht der Reihe nach gleich gründlich durchlaufen werden.

      Meine Erfahrung mit Trauernden zeigt, dass Trauer oft zirkulär verläuft. Da befindet sich der Trauernde zunächst etwa für längere Zeit im Haus des Schmerzes, dann wagt er sich jedoch auch schon in den Raum der Erinnerung. Aber auf einmal ist das Bedürfnis groß, den Schmerz noch einmal zu spüren, oder er überfällt einen einfach, und man wandert zwischen den Räumen. So kann es mit allen Räumen gehen, die wir hier als Bild, als Metapher benutzen.

      Trauer geschieht weniger linear, geschieht nicht indem ich eine Aufgabe nach der anderen abarbeite, sondern eher indem ich pendle, je nachdem wie mir zumute ist und meine Seele es nötig hat.

      Trauer geschieht weniger linear, geschieht nicht indem ich eine Aufgabe nach der anderen abarbeite, sondern eher indem ich pendle, je nachdem wie mir zumute ist und meine Seele es nötig hat.

      Besonders Erinnerungstage im Jahresverlauf werden häufig dazu führen, dass der Trauernde den Raum des Schmerzes oder der Erinnerung wieder aufsucht, auch wenn er bereits Schritte durch den Raum der Liebe und der Wandlung gegangen ist.

       Den Schock überstehen

       Britta:

      Ein Blick auf die Uhr: Ja, jetzt kann ich gehen. Die Chance, jemanden zu treffen ist gering. Ich möchte nicht gestört werden, wenn ich am Grab von Matthias bin. Ich möchte keinem Menschen begegnen. Morgens halb acht bin ich ganz sicher allein. Da ist noch niemand auf dem Friedhof.

      Immer noch hat der Winter die Erde im Griff. Der anhaltende Dauerfrost lässt den Boden erstarren. Eine dünne Schneedecke liegt über der Erde. Die schweren, großen Pappeln am Weg halten ihre kahlen Äste wie ausgestreckte Arme in den Himmel. Der Lebenssaft hat sich aus den Bäumen zurückgezogen, keine Blätter, keine Blüten, keine Früchte. Zeit der schwarzen Vögel; Krähen, die sich in den Pappeln niederlassen, als suchten sie Schutz vor der eisigen Kälte.

      Mein schwarzer Mantel schützt mich nicht nur vor der Kälte, er gibt mir ein