Ольга Токарчук

Die grünen Kinder


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      Die grünen Kinder

      Bizarre Erzählungen

      Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein

      Kampa

      Der Passagier

      Während eines langen Nachtflugs über den Ozean erzählte der Mann neben mir von den Ängsten, die er als Kind gehabt hatte. Stets kehrte derselbe Albtraum wieder, in Panik schrie er auf, rief nach seinen Eltern.

      An den langen Abenden war es – die stille, kaum von Lichtern erhellte Zeit, die das Flimmern der Fernsehbildschirme noch nicht kannte (einzig das Murmeln des Radios war ab und an zu hören oder das Rascheln der väterlichen Zeitung), ließ manch wunderlichen Gedanken entstehen. Und der Mann erinnerte sich, dass er immer schon von der Vesper an gespürt hatte, wie die Furcht aufzog, woran die beruhigenden Worte seiner Eltern nichts zu ändern vermochten.

      Drei, vielleicht vier Jahre alt war er gewesen; sie wohnten in einem dunklen Haus am Rande einer Kleinstadt. Sein Vater war Schuldirektor, ein Mann mit Prinzipien, ja von geradezu unerbittlichem Charakter. Die Mutter arbeitete in einer Apotheke, ständig umwehte sie eine Wolke von Arzneidunst. Er hatte noch eine ältere Schwester, doch im Gegensatz zu den Eltern unternahm sie keine Versuche, ihm zu helfen. Im Gegenteil – mit einer Freude, die ihm unbegreiflich war, sprach sie schon am Nachmittag davon, dass nun bald-bald die Nacht komme. Und wenn keine Erwachsenen in der Nähe waren, tischte sie ihm Geschichten von Vampiren auf, von Leichen, die aus ihren Grüften krochen, allen möglichen Schreckensgestalten der Finsternis. Doch – seltsam genug – diese Phantasien versetzten ihn nicht in Angst. All die Wesen, die gemeinhin als gruselig galten, schreckten ihn nicht. Als wäre der Platz der Angst in ihm bereits besetzt und damit alle Möglichkeit erschöpft, sie zu empfinden. Er hörte den dramatischen Flüsterton seiner Schwester, wenn sie versuchte, ihm Gänsehaut einzujagen. Und er hörte es ohne Regung, denn er wusste, dass ihre Geschichten belanglos waren angesichts der Gestalt, die er Nacht für Nacht erblickte, wenn er unter der Bettdecke lag. Jahre später durfte er seiner Schwester dankbar sein, sie hatte ihn so weit immun gemacht gegen die herkömmlichen Ängste der Welt, dass er als Erwachsener sozusagen furchtlos war.

      Die Ursache seiner Angst in Kindertagen ließ sich nicht benennen, er fand keine Worte dafür. Wenn seine Eltern ins Zimmer stürzten und fragten, was geschehen sei, was ihn im Traum so erschreckt habe, sagte er nur: »er« oder »einer« oder »der«. Der Vater knipste das Licht an, deutete, im Vertrauen auf die Überzeugungskraft des empirischen Beweises, in die Ecke hinter dem Schrank, in den Winkel neben der Tür, und sagte ein ums andere Mal: »Siehst du, da ist nichts. Da ist nichts.« Die Mutter hingegen nahm ihn in die Arme, umfing ihn mit ihrem antiseptischen Apothekenarom und flüsterte: »Ich bin doch bei dir, es kann dir nichts Böses geschehen.«

      Er aber war zu jung, im Grunde wusste er noch nichts von Gut und Böse. Und er war zu jung, um Angst zu haben um sein Leben. Zudem gibt es Schlimmeres als den Tod, Schlimmeres als Vampire, die einem das Blut aussaugen, Werwölfe, die einen zerfleischen. Kinder wissen es am besten: Der Tod ist irgendwie auszuhalten. Das Schlimmste ist, was sich wiederholt, mit unveränderlicher Regelmäßigkeit, unausweichlich, vorhersehbar – und nicht das Geringste können wir tun dagegen, wie eine Zange packt es uns und schleift uns mit.

      Und er sah in seinem Zimmer, zwischen Schrank und Fenster, die dunkle Gestalt eines Mannes. In dem Fleck, der das Gesicht sein musste, glomm ein kleiner roter Punkt – das glühende Ende einer Zigarette. Glomm er stärker auf, war das Gesicht etwas deutlicher zu sehen. Fahle, müde Augen musterten das Kind. Ein dichter, angegrauter Bartwuchs, ein von Falten zerfurchtes Gesicht, schmale Lippen, wie geschaffen, um an einer Zigarette zu ziehen. So stand er reglos da, während das schreckensbleiche Kind in aller Hast sein Abwehrritual vollzog – es steckte den Kopf unter die Decke, klammerte sich an den Metallrahmen des Bettes und richtete ein tonloses Stoßgebet an den Schutzengel. Seine Großmutter hatte es ihm beigebracht. Doch half es nichts, das Gebet wurde zum Schrei, und die Eltern eilten ins Zimmer.

      So ging es eine ganze Weile, lange genug, dass in dem Kind ein tiefes Misstrauen gegenüber der Nacht erwuchs. Doch folgte auf jede Nacht ein Tag, der über alle Geschöpfe der Dunkelheit triumphierte. So wuchs das Kind heran und begann zu vergessen. Immer mächtiger wurde der Bann des Tages, immer mehr an Neuem, Überraschendem brachte er mit sich, die Eltern atmeten erleichtert auf, und bald hatten auch sie die Ängste ihres Sohnes vergessen. Sie wurden in Frieden alt, und jedes Frühjahr lüfteten sie sämtliche Zimmer. Der Junge wuchs indes zu einem Mann heran, der allmählich zu der Überzeugung gelangte, dass alles Kindliche weiterer Beachtung nicht wert sei. Zumal die Morgen- und Mittagsstunden alle Dämmerungen und Nächte aus seinem Gedächtnis getilgt hatten.

      Kürzlich erst – so erzählte er mir –, als er so sanft, dass er es selbst kaum bemerkte, die sechzig überschritten hatte und eines Abends müde nach Hause kam, entdeckte er die ganze Wahrheit. Vor dem Schlafengehen wollte er noch eine Zigarette rauchen, er stellte sich ans Fenster, das vor der Dunkelheit draußen zu einem kurzsichtigen Spiegel wurde. Das aufgleißende Streichholz brannte für einen Moment ein Loch in die Nacht, dann erhellte die Glut der Zigarette ein Gesicht. Und aus der Finsternis trat wieder dieselbe Gestalt hervor – die bleiche, hohe Stirn, die dunklen Flecken der Augen, der Strich des Mundes, der angegraute Bart. Er erkannte ihn sofort wieder, nicht im Mindesten hatte die Gestalt sich verändert. Und die Gewohnheit – schon wollte er Luft holen, um zu schreien, doch war da niemand, den er hätte rufen können. Seine Eltern waren lange tot, er war allein, die Rituale aus Kindertagen hatten ihre Wirkung verloren, auch an einen Schutzengel glaubte er längst nicht mehr. Und als er in ebendiesem Augenblick verstand, vor wem er sich damals so gefürchtet hatte, empfand er Erleichterung. Die Eltern hatten also recht gehabt – die Welt war nicht gefährlich.

      »Der Mensch, den du siehst, existiert nicht, weil du ihn siehst, sondern weil er es ist, der dich anschaut«, sagte der Mann am Ende seiner Geschichte. Und dann sanken wir in Schlaf, gewiegt von den Bassklängen der Triebwerke.

      Die grünen Kinder

      oder

      Eine Beschreibung seltsamer Begebenheiten in Wolhynien,

      verfertigt von William Davisson, dem Medicus Seiner Königlichen Majestät

      Johann Kasimir

      Diese Ereignisse trugen sich im Frühjahr und im Sommer 1656 zu, als ich ein weiteres Jahr in Polen weilte. Einige Lenze zuvor war ich ins Land gekommen, eingeladen von Maria Luisa Gonzaga, der Gemahlin des polnischen Königs Johann Kasimir. Als königlicher Medicus und als Verwalter der königlichen Gärten sollte ich tätig werden. Die Einladung einer solch ehrwürdigen Persönlichkeit konnte ich nicht ablehnen, auch gaben gewisse private Umstände ihr Teil dazu, von welchen zu sprechen an dieser Stelle jedoch nicht nötig ist.

      Auf meiner Reise nach Polen empfand ich durchaus ein Unbehagen. Ich kannte dieses Land nicht, das so weit entfernt lag von der mir bekannten Welt. Ich sah mich als einen Ex-Zentriker an, einen Menschen, der sein Zentrum verlässt, in dessen Bannkreis er weiß, was er zu gewärtigen hat. Es war mir bange vor den fremden Sitten, dem hochwilden Temperament der Völker des Ostens und des Nordens, vor allem aber machte ich mir Sorgen ob der unvorhersehbaren Witterung, der Kälte, der Feuchtigkeit. Nur zu gut war mir das Schicksal meines Freundes René Descartes im Gedächtnis, der einige Jahre zuvor auf Einladung der Königin von Schweden zu deren kalten Palästen im fernen Stockholm aufgebrochen war, wo er sich eine Erkältung zuzog und in der Blüte seiner Jahre und seiner Geisteskräfte verstarb. Welch ein Verlust für die gesamte Gelehrtheit! In der Befürchtung, ein ähnliches Los zu erleiden, brachte ich aus Frankreich einige der besten Pelze mit, doch im ersten Winter schon sollte sich zeigen, dass sie zu dünn und zu fein waren für das Wetter. Der König, mit dem mich rasch eine aufrichtige Freundschaft verband, schenkte mir einen Wolfspelz, der bis zu den Fußknöcheln reichte. In diesen Pelz hüllte ich mich von Oktober bis April. Auch während der Reiseunternehmung, die ich hier beschreiben möchte – im März fand sie statt –, habe ich ihn getragen. Denn wisse, werter Leser, dass die Winter in Polen, wie überall im Norden, sehr streng sein können – imaginiere Dir, dass dann der Weg nach Schweden über das wie Stein gefrorene Mare Balticum führt, und auf vielen vereisten Teichen und Flüsschen hält man zum Karneval Jahrmärkte ab. Da die Winterzeit, in der die Pflanzen unter einer Schneedecke verborgen liegen, lange währt in diesen