F. John-Ferrer

Wenn alles in Scherben fällt


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      Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.

      Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2015

      © 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

       www.rosenheimer.com

      Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

      Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 101I-695-0408-11A /

      Fotograf: Leher

      eISBN 978-3-475-54453-8 (epub)

      Worum geht es im Buch?

      F. John-Ferrer

       Wenn alles in Scherben fällt

      »Strafsoldaten sind zum Sterben da«, das ahnt auch Helmut Kalmeder, der wegen seiner Begeisterung für kommunistische Ideen bereits seit vier Jahren im KZ in Dachau ist. Eigentlich ist er daher für den Dienst an der Front ungeeignet, doch eine Verfügung vom Oktober 1942 hebt die Wehrunwürdigkeit für die Dauer des Krieges auf. Aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern werden kampftaugliche Männer geholt, gedrillt und auf ihre Aufgaben als Soldat vorbereitet. Verbrecher und politisch Andersdenkende finden als Ersatzbataillon 999 ihr Schicksal an der Ostfront, in Afrika, aber auch auf dem Balkan, um dort für ein Vaterland zu sterben, an dessen Ideale kaum einer glaubt.

      1

      Er ist ganz ruhig. Er zittert nicht. Er kann auf der Holzpritsche sitzen und noch einmal über alles nachdenken, ohne in Tränen oder dumpfes Angstgebrüll auszubrechen. Strafsoldat Herbert Klenke weiß, dass er heute erschossen wird – in einer Stunde, vielleicht in zwei oder drei. Die Marschtritte des Exekutionskommandos können aber auch schon in der nächsten Minute im Korridor des Gefängnisses ertönen.

      Die Uniform ist abgegeben worden. Behalten durfte er nur den Drillich und die Turnschuhe, alte, morsche Klamotten, die gerade noch gut genug sind, um mit ihm in der Grube zu vermodern.

      Klenke hatte gewusst, dass er an den Erschießungspfahl kommen würde, wenn man ihn erwischte. Er hätte seine Flucht anders durchführen müssen. Es war ein Fehler, zu Hilde zu gehen und sich mit ihr in einem Zweibettzimmer eines Straßburger Hotels einzuschließen. Sie waren auch pünktlich gekommen, die Kettenhunde, mit ärgerlichen Mienen und entsicherten Pistolen.

      Hilde wollte sich dem Feldwebel vor die Füße werfen, aber der Strafsoldat Klenke hat das nicht geduldet, hat sie angeschrien und ihr dann einen Kuss auf den bebenden, tränennassen Mund gegeben.

      »Lass man«, hat er zu ihr gesagt, »weine nicht. Geh heim und vergiss mich.«

      Angst? Strafsoldat Herbert Klenke, wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt, schüttelt den Kopf. Nee, das ist vorbei, das mit der Angst. Angst hat er nur gehabt, als sie ihn mit Fußtritten in die Zelle geworfen haben, die Wachposten gekommen sind, ihn angespuckt und geschrien haben: »Du Schwein! Du Verräter! Du Sauhund!« Nur der Geistliche hat »mein lieber Sohn« gesagt.

      Er schaut zum vergitterten Fenster empor, hinter dem der Tag graut. Der letzte Tag eines verspielten Lebens. Wie sachlich der Gerichtsoffizier gewesen ist! Hat sich alles angehört, ein paarmal genickt, sich Notizen gemacht und sich mit dem Finger an der von Mensuren zerhackten Wange gekratzt. Dann das Urteil, monoton gesprochen, mechanisch, oft geübt: wegen Fahnenflucht zum Tode durch Erschießen verurteilt …

      Klenke hat nur zustimmend genickt. Strafsoldaten sind zum Sterben da. Zu Tausenden, zu Abertausenden! Wie damals, am 7. Oktober 1943, als der alte Minensucher die tausend Mann des IX. Ersatzbataillons 999 hätte von Piräus nach Samos fahren sollen. Es sind nur wenige mit dem Leben davongekommen. Die britischen U-Boote haben ganze Arbeit geleistet. Am 9. Oktober des gleichen Jahres sind noch einmal 450 Strafsoldaten zu den Fischen geschickt worden, und am 11. Oktober des nächsten Jahres sind es dann 800 gewesen, die »etwas gutzumachen« hatten.

      Strafsoldat Herbert Klenke hat keine Angst vor dem Tod. Sie ist gestorben, als er sechs Stunden lang im salzigen Wasser geschwommen ist und endlich den Strand erreicht hat, um weiterleben zu dürfen. Wieder in die Heimat verschickt, wieder eingekleidet, wieder in Marsch gesetzt, um den Tod noch einmal herauszufordern, hat Strafsoldat Herbert Klenke beschlossen, nicht mehr mitzumachen und abzuhauen. In Straßburg, in dem zweitrangigen Hotel, nachts um ein Uhr, ist seine militärische Laufbahn endgültig zu Ende gegangen.

      Jetzt wartet er. Sie müssen ja bald kommen, um mit einer Salve die Erinnerung an Berlin, KZ Buchenwald und aussichtsloses Heldentum wegzuknallen.

      Aber Leutnant Franz Hartwig ist noch nicht fertig. Er schaut in den Spiegel und stellt fest, dass er wieder einmal versoffen aussieht. Tatsächlich hat er die ganze Nacht durchgesoffen, drüben, bei der Uschi in ihrer gemütlichen Bude.

      Wo das Ding bloß immer den französischen Kognak her hat, fragt sich der einarmige Leutnant, als er den Wasserhahn aufdreht und den brummenden Schädel ins Becken taucht.

      Uschi Brandt, die Stabshelferin, sitzt unterdessen schon längst vor dem Vermittlungsschrank und verbindet mit einem unerschütterlich freundlichen »’n Augenblickchen, bitte …«, die Teilnehmer.

      Leutnant Hartwig rasiert sich sehr geschickt mit der Rechten, zieht Grimassen und schielt dann auf die abgelegte Armbanduhr. Um neun Uhr ist wieder eine Exekution. Er muss sich beeilen. Der arme Kerl, der drüben im Stabsgebäude wartet, soll bald erlöst sein.

      Wie heißt er doch gleich, der heute dran ist? … Klinke oder so ähnlich. So ein Dummkopf! Haut ab und lässt sich erwischen … Immer dasselbe Lied: die Frauen. Nur wegen des Frauenzimmers ist der … der Dingsda erwischt worden. Das hat er nun davon.

      Dar einarmige Leutnant schüttelt den schmalen Schädel, auf dem das Haar schütter wird. Hartwig kann nicht behaupten, dass ihm das Exekutionskommando Spaß macht. Aber Befehl ist Befehl. Ein Leutnant, der bei Smolensk den Arm verloren hat, ist gerade noch gut genug, um den Degen zu heben und »Feuer« zu kommandieren.

      Bei der ersten Exekution hat Hartwig für einen Moment die Augen zugemacht. Bei der nächsten musste er sich gewaltsam zwingen, hinzuschauen, wie der Mann am Pfahl zusammenzuckte und den Kopf auf die Brust sinken ließ. Die nächsten Hinrichtungen konnte Leutnant Hartwig nur noch in alkoholisiertem Zustand ertragen. Heute lässt es ihn kalt, wenn einer zum Pfahl wankt. Nur wenn einer zu brüllen beginnt, zu fluchen, zu flehen, dann wird Leutnant Hartwig unruhig und gibt die Kommandos ganz schnell. Diese verdammten Hinrichtungen sind daran schuld, dass er säuft. Jeder Tote bringt ihn dem Delirium tremens näher.

      »Lass dich doch versetzen«, hat Uschi gestern Nacht zu ihm gesagt. »Du machst dich hier ja fertig.«

      Er lallte in ihren Armen etwas von Mistkrieg, Sauleben, und dann hat er sich aufgerichtet und das Mädchen angeschrien:

      »Willst mich wohl loswerden, was?«

      »Nein, ich will, dass du nicht so viel trinkst!«

      »Ich saufe weiter!«, hatte er geknirscht und dann ein ganzes Mundspülglas voll Kognak ausgetrunken.

      Fünf vor neun. Leutnant Hartwig legt die Armprothese an, zwängt sich etwas umständlich in den Uniformrock und schnallt den Degen um.

      Draußen stehen die sechs Mann. Ihre Gesichter hängen unter den Stahlhelmen wie steinerne Masken. Koppel und Patronentaschen sind blank gewienert. Die Gewehrläufe funkeln kalt im blauen Morgenlicht.

      »Stillgestanden! Rührt euch! Augen geradeeee aus! Im Gleichschritt – marsch!«

      Die Kommissstiefel trommeln. Tram, tram, tram, tram … Herbert Klenke hört sie kommen und erhebt sich. Tram, tram, tram, tram …

      Er ist blass. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Ein Zittern schleicht sich in die Knie. Die Angst wächst und wächst, das Leben ist mit einem