Hans Wollschläger

Karl May


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– § 330 des StGB f. d. Kgr. Sachsen (1855) auf Antrag eine strafbare Handlung, die mit »Gefängnis bis zu 6 Wochen« gerächt wird[25] –): man liefert May in Untersuchungshaft beim Gerichtsamt Chemnitz ein, das auch den Superintendenten Kohl in Kenntnis setzt. An Kohl auch schreibt am gleichen 26.12. noch Heinrich May einen Brief, aus dem hervorgeht, wie dunkel der Fall auch für die Familie war: »Wohl werden Sie von dem traurigen Vorfalle meines Sohnes … Kunde erlangt haben. Das Vorgekommene versetzt mich, sowie meine ganze Familie in den tiefsten Kummer, da wir durchaus gar nicht wißen, wie sich eigentlich die Sache verhält. Ich kann kaum glauben, daß mein Sohn die Uhr in der Absicht an sich genommen hat, einen Diebstahl begehen zu wollen. Ich glaube vielmehr, daß er es gethan hat, besagte Uhr während der Feiertags Ferien zu benutzen und sie dann stillschweigend wieder an den Ort ihrer Bestimmung hinzubringen. Sollte es sich so verhalten, wende ich mich im Vertrauen auf Ihre Güte mit der unterthänigsten Bitte an Sie, falls Sie etwas zum Schutze meines Sohnes beitragen könnten, dasselbe geneigt thun zu wollen, da ich nicht weiß, wohin, oder an wem ich mich wenden soll. Sollte die kaum begonnene Laufbahn meines Sohnes schon eine andere werden, und vielleicht eine solche, welche mit der größten Ungewißheit umgeben ist, welch ein Unüberwindlicher Schmerz würde das für uns alle werden …«[26] Denn die Folgen einer Verurteilung waren auch den Eltern aus den ›Verhaltensregeln für Schulamtscandidaten des Kgr. Sachsen‹[27] nur zu gut bekannt … Aber der Superintendent hegt keine der gewünschten Superintentionen; erst 16 Monate später erkundigt er sich einmal beim Chemnitzer Gerichtsamt nach dem Verbleib dieses Geringsten unter seinen Nächsten: »ob derselbe Strafe erhalten und seine Strafe verbüßt hat …«[28]; er liest die Antwort: »… daß der Fabriklehrer C. F. Mai zu Altchemnitz durch den in 2. Instanz bestätigten Bescheid des unterzeichneten Gerichtsamtes wegen Diebstahls zu 6 Wochen Gefängnis verurtheilt worden ist und nach Abschlagung der von ihm bzw. seinen Eltern angebrachten Gnadengesuche diese Strafe vom 8. Sept. bis 20. Oct. 1862 verbüßt hat …«[29] Der Dreivierteljahrszeitraum zwischen der Inhaftierung und der Verbüßung der Strafe scheint eigentliche Beweise nicht zutage gebracht zu haben; May wird »ungeachtet seines Läugnens für überführt erachtet«, wie es etwas später ein Zeitungs-Report weiß[30] (die Akten selber sind nicht mehr erhalten): eine Verurteilung auf Indizien hin also, – und wenn auch ein Leugnen Mays nun leider gar nichts besagen würde, so ist auf der anderen Seite die Strafbemessung, die auf den genannten Paragraphen 330 paßt, doch ein Hinweis, daß der Kgl. Sächsischen Gerechtigkeit bei ihrem Ratschluß gar so wohl nicht war: – der Fall wird immer unentschieden bleiben.

      Weniger unentschieden ist die Wirkung, die er – jenseits aller Rechts- und Unrechtserwägungen – auf den Getroffenen hat: dem kommt er vor wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang … Es herrschte jetzt in mir das strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank … Und die lange Apologie, die May im Alter seinem damaligen Zustand widmete, mag immer mit gehört werden, so sehr sie sich dem gepeinigten alten Mann auch in die Theorie verschob; entschuldigen müssen ihn nicht die Zwangszustände einer gestört verwirrten Seele, sondern ganz platt und massiv die förmlich verschwörerisch um ihn zusammengerotteten Realitäten … denen freilich seine stets mehr von flackerndem Affetto als intellektuell gesteuerte Person nur allzu unglückselig Vorschub leistet.

      Aus der Chemnitzer Haft entlassen, geht May zu den Eltern nach Ernstthal; die nächsten anderthalb Jahre verbringt er dort mit wechselnd kümmerlichem Fristen seines unübersichtlich gewordenen Lebens. Privatstunden geben die dünne Basis; als Rezitator tritt er gelegentlich auf, als Musikant; den Gesangverein ›Lyra‹ scheint er zeitweilig geleitet zu haben (dafür entstehen eine Reihe Kompositionen, Gebrauchsmusik, flott und flach gemachte, je nachdem Vater-unser-mäßig getragen oder Immer forsch resolut[31]). Ob freilich die ersten schriftstellerischen Versuche (von Gelegenheitsreimereien abgesehen) bereits in diese Zeit fallen, bleibt unbewiesen: Humoresken schrieb ich von 1860 an[32], heißt es in einer späten Notiz, und: Meine ersten Veröffentlichungen erschienen schon im Jahre 1863 …[33] Durchaus falsch jedenfalls sind die grandiosen Gesten der Selbstbiographie: Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können … Und ich begann zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann ›Erzgebirgische Dorfgeschichten‹. Ich hatte nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere … Weder noch und weder noch; wie später immer wieder, hat man auch hier May gegen seine eigenen, ungeschickt bezweckten Behauptungen in Schutz zu nehmen. Denn: am 20.6.63 verfügt das Kultusministerium auf Antrag der Kreisdirektion Zwickau, daß er aus der Kandidatenliste gestrichen wird[34]; seine Zeugnisse werden kassiert; und wenn er gar, ganz heimlich, und wider schlimmeres Wissen, vielleicht doch noch gehofft hat, aus der müßigen, wenig süßen Ernstthaler Stagnation eines Tages wieder in den alten Beruf fortzukommen, so ist es damit jetzt gründlich aus: er steht wieder am Anfang, steht – nach sechs Jahren nun vergeblicher Quälerei – vor dem Nichts.

      Ein Jahr eben dauert es, bis sich die Konsequenzen einstellen.

      Am 9.7.64 erscheint in Penig ein »Dr. med. Heilig, Augenarzt und früher Militair aus Rochlitz«: »Alter: 21–23 Jahre; Größe 68–69 Zoll; Statur: mittel und schwach; Gesicht: länglich, blaß; Haare: dunkelbraun; Nase und Mund: proportioniert; Stirn: hoch und frei … Brille mit Argentangestell … von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen …«[35]: Portrait of the Artist as a Young Man. Derselbe läßt sich in einem Kleidermagazin ausstaffieren (nicht ohne den Doktor-med zuvor durch ein »zwar eine gute Schulbildung aber keine eigentliche medicinische Ausbildung verrathendes Augenheilrezept«[36] unter Beweis zu stellen) und verschwindet sodann, ohne zu bezahlen … Am 16.12.64 taucht er als »Seminarlehrer Lohse« in Chemnitz wieder auf, läßt sich (mittlerweile mit kurzem dünnen Backenbart versehen und in den Augen der Gendarmerie auf 26 Jahre und 72 Zoll Größe avanciert) in den Gasthof ›Zum Anker‹ diverses Pelzwerk kommen (»Wert über 100 Thlr.«), begibt sich damit ins Nebenzimmer, um es dort seinem »kranken Herrn Direktor« zu zeigen, kehrt aber nicht zurück, sondern entfernt sich vielmehr alsbald »mit dem um 3 Uhr nach Leipzig gehenden Eisenbahnzuge …«[37] In Leipzig aber spürt das Völkchen dann doch, wer sie da laufend am Pelzkragen hat: als sich am 20.3.65 der Notenstecher Hermin (gelegentlich auch »Hermes«: nach so brillanten Erfolgen nicht mehr nur einfacher Dieb, sondern gleich Gott der Diebe) am Thomaskirchhof 12 einmietet und sogleich das alte Manöver wiederholt, geht der Hauswirt zur Polizei; die Pfandleihen werden benachrichtigt; man kommt dem Fremden auf die Spur, die ins Rosental führt; – und dort wird er nach einem Handgemenge »ergriffen und nachher mittels eines Fiakers hierher transportiert«: aufs Polizeiamt Leipzig. Dort ist der Arretierte »anfänglich ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizeiarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen und erst später angegeben, daß er Karl Friedrich May heiße, in Ernstthal heimatberechtigt und dort Lehrer gewesen sei …«[38]

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      Schloß Osterstein, 1865.

      Ob May in den offenen Zwischenzeiten ähnlich tätig gewesen ist[39], wie es später in so rüdem Ausmaß behauptet wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden, ist aber unwahrscheinlich: verurteilt wird er ausschließlich aufgrund der 3 hier skizzierten Delikte. Am 8.6.65 ist die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Leipzig; »allenthalben des ihm Beigemessenen geständig«[40], wird er »wegen unter erschwerenden Umständen verübten gemeinen Betrugs«[41] (an anderer Stelle: »wegen mehrfachen Betrugs«[42]) zu der Strafe verurteilt, die heute gelegentlich für Beihilfe zum Massenmord verhängt wird: 4 Jahre 1 Monat Arbeitshaus …

      Eine Woche später ist das »unwürdige Glied des Lehrerstandes«[43] nur noch die »Nummer 171« unter den rund 1000 Gefangenen der Strafanstalt Schloß Osterstein in Zwickau.