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Diana Kinnert | Marc Bielefeld
Die neue Einsamkeit
Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können
Hoffmann und Campe
Für jeden, der jemanden vermisst;
manchmal sich selbst.
Dinner for One
Shalom! Herzlich, laut und überdeutlich. So begrüßt, schreite ich durch die Tür, und es reicht, um in einer Welt anzukommen, in der alles geht, in der alle dürfen und nach der jeder lechzt. Goldene Kordeln fallen ins Gesicht, die gestaute Feuchtigkeit des Innenraums trägt beinahe wieder hinaus, volle Lippen haften für Augenblicke an den Wangen. Kuss hier, Kuss da. Das Essen dampft, die Gläser klirren, der Alkohol fließt. Begrüßungsformeln auf Französisch, Portugiesisch, Hebräisch, Englisch, Deutsch.
Yafo. Endlich wieder ins Yafo.
Wir schreiben die Zeit vor der Pandemie, es ist ein lauer Sommerabend in Berlin-Mitte. Eben bin ich noch durch die Torstraße gewandelt, jene historisch wechselvolle Hauptverkehrsvene im Look der Reichshauptstadt, heute neumodern belegt durch Boutiquen, gefüllt mit kalifornischer Mode, skandinavischem Mobiliar, hochpreisigen Comicheften aus vergangenen Jahrzehnten. Ich bog in eine Seitengasse, da liegt also das Yafo, ein auf den ersten Blick unauffällig anmutendes israelisches Lokal. Die Betreiberin Shani Ahiel, Israelin mit jemenitischen Wurzeln, ein kurz geratenes Energiebündel mit gelockter, schwarzer Mähne, wollte es so. Interieur aus durchmischten Holzarten. Gebrauchte Kinosessel überzogen mit bordeauxrotem Samt. Ein Ensemble antiker Spiegel verdoppelt die Gäste, Rahmen und Leuchter kleben an den Wänden, unter der Decke; Phantasien alter Jahrmärkte. Aus den Lautsprechern tönen die Stimmen selbstbewusster Jüdinnen aus den siebziger Jahren. Ihre Schallplattencover schweben an den Betonwänden.
»Ma nishma?«, fragt Yehonathan. »Wie geht es Dir?« Sein Wangenkuss hinterlässt Lippenstiftspuren auf meinem Gesicht. Der kahl geschorene Schädel glänzt, die gefärbten Augenbrauen sind hochgezogen. Yehonathan trägt Absatzschuhe, ist mit allerhand Klimbim behangen. Seine Finger sind mit Insekten und Reptilien tätowiert, als würde er dort den Katalog eines Naturkundemuseums abbilden wollen. Ein durchgezogenes Projekt zur Eheschließung, wie Yehonathan und sein Ehemann auf Nachfrage erklären. Yehonathan, insgesamt eine mystische Erscheinung. Verspielt, selbstbewusst, androgyn, elegant. Ein Überlebenskämpfer und Lebenskünstler aus den strengen jüdisch-orthodoxen Tiefen Jerusalems, angekommen in einer der wildesten Metropolen der Welt, einem Kessel aus düsterer Technokultur, sexueller Freizügigkeit, urbaner Kunst; angekommen im Berlin des dritten Jahrtausends.
Yehonathan wird die Gäste des Yafo durch den kulinarischen Abend lenken. Hier und heute, Twenty Nineteen.
Wie geht es Dir? Angebotslos steht die Frage zwischen uns, ist sich über die Antwort längst im Klaren. Ich sage unernst: »Alles gut.« Yehonathan nickt zufrieden, wendet sich seinem Tablet zu. Er ist Gastgeber des Abends, nach deutschen Gastronomieregeln Rezeptionist und Chefbedienung in einer Person, im Yafo-Vokabular: Host of the night. »Table for eight?« Ich nicke, rufe etwas Bejahendes hinterher. Während Yehonathan Befehle ins Tablet tippt, blicke ich kurz über seine Schulter. Wer ist heute alles da? Welche Bedienungen haben Schicht, wer sitzt am Tresen? Ich kenne das Lokal gut. Der Ruf des Yafo: International und extrem populär. Das liegt ohne Zweifel an der unbemühten Grundstimmung hier: Enthemmt, leidenschaftlich, tropisch-exotisch, zwanglos.
Der Laden ist schon jetzt fast voll. An gewöhnlichen Wochentagen sind die Tische für den Abend bereits Tage im Voraus bis an die Kapazitätsgrenzen gebucht. Die Berlinerinnen und Berliner, ihre Freunde, ihre Gäste, sie stehen bis runter zur Torstraße. Denn sie wollen ja nicht nur schmausen. Sie wollen sich vermengen, wollen die anishaltigen Spirituosen, das queer-jüdische Kabarett und den orientalischen Tanz. Im Yafo fließt das alles zusammen, summiert sich auf magische Weise, potenziert sich. Ein losgelassener Schrei mitten in diesem Berlin, in diesen Zeiten.
Als Yehonathan das erste Mal seine neue Wahlheimat bereiste, war das erste deutsche Wort, das er lernte: Verboten. Immer wenn Shani, die Betreiberin, die Anekdote hört, kreischt sie wie ein Papagei hinterher: »Papiere, Papiere, Papiere!« Aber dann kommt ja meist schon die Musik, kommen die Gerüche, die ersten Gäste, kommt die Besänftigung. Und so fühlt es sich dann an, wenn alles geht und alle dürfen, wenn der Tanz kommt, die Musik, wenn Enge und Körperlichkeit zu den Antipoden spießbürgerlicher Leitkultur werden und die Normen der artigen Abstandswahrung unterlaufen.
Aber ach, wenn doch alles nur so einfach wäre und das Yafo womöglich das echte Menschenherz.
Es ist 19:12 Uhr. Yehonathan führt mich zu meiner Tafel. Wir sind heute zu acht. Ein Abend unter Freundinnen und Freunden, so ist es verabredet. Yehonathan entlässt mich, küsst mich noch einmal auf die Wange, schreitet sodann fort, um die nächsten Gäste in Empfang zu nehmen. Ich wende mich dem Tisch zu, an dem Isobel schon sitzt. Ihr gewelltes Haar ist hochgesteckt, die Schultern frei. Ich freue mich, sie zu sehen, kann sie es abends für gewöhnlich doch so gut wie nie einrichten.
Isobel tanzt. Tanzt professionell, jeden Abend. »Erwachsenenunterhaltung«, wie sie sagt. Ich rücke zu ihr auf, bereit zur pre-pandemischen Umarmung, doch ihr Blick haftet auf dem Smartphone. Es dauert, bis sie mich bemerkt in diesem Yafo-Nebel. »Diana!«, ruft sie. Dann schnellt sie hoch, im selben Zug finden die Finger gerade noch das Rotweinglas, ein hastiger, kleiner Schluck, wir umarmen uns, dann sagt Isobel: »Entschuldige, dass ich schon bestellt habe, aber ich muss ja gleich schon wieder los.« Die Arbeit ruft, die Nachtschicht. Isobel, die Tänzerin. Ich habe Verständnis, bin dankbar. Immerhin ein kurzer Moment an diesem Abend. »Wann kommen die anderen?«, fragt sie. »Müssten gleich da sein«, sage ich, mit Blick auf das Telefon. Sieben ist es ja längst.
Ich bestelle ein Glas Wein. Es wird immer lauter um mich herum. An den Nachbartischen sind die ersten Flaschen geleert, die stresserprobten Bedienungen beginnen sich zu konzentrieren. Die Temperatur steigt, immer mehr Gäste gehen für eine Zigarettenlänge vor die Tür. Isobel und ich unterhalten uns, sprechen über den Job. Der Tanz, die Politik. Die Kunden, die Strategien, die Aussichten. Dann: die Menschen, das Leben. Ich frage sie, nebenbei, Erwachsenenunterhaltung und Beziehungsglück, wie geht das zusammen? Sie spricht von Affären, Experimenten. Das größte Hindernis für eine stabile Beziehung, sagt sie, ist nicht die Eifersucht, es ist das fehlende Alltagserleben. Isobel nimmt einen Schluck, tippt an ihrem Glas herum. »Ich komme ja selten vor sieben Uhr nach Hause, ab fünf am Nachmittag geht das Geschminke wieder los.«
Das Wort Sehnsucht fällt nicht, es ist offenbar kein Bestandteil ihres Vokabulars. Als ich das Wort doch erwähne, nickt Isobel, sagt: »Ich muss dringend eine Kleinigkeit essen.«
Wir bestellen. Eine halbe Stunde ist vergangen. Wir sind zu zweit. Blick auf das Mobiltelefon. Leila fragt, ob das Abendessen eigentlich noch stattfindet. Franka informiert uns, dass sie später kommt, sie habe noch einen Arbeitstermin. Cassandra will wissen, wer eingeladen ist. Betül teilt ihren Standort, scheint auf dem Weg zu sein. Elisabeth kündigt an, sie sei gleich da, sie muss noch jemanden ins Bett bringen.
»Seit wann hat Elisabeth Kinder?«, fragt Isobel, als ich ihr von dem Kammerspiel erzähle. »Sie hat keine Kinder«, antworte ich, »Sie hat eine Fernbeziehung.« Isobel lacht auf. In Kathmandu ist es 23:15 Uhr. Der Gute-Nacht-Videochat mit der Freundin steht gerade an.
Im Yafo wird die Luft schwerer, beginnen die Fenster zu schwitzen. Eine junge Ägypterin im Bikini-Top kommt zu uns an den Tisch, serviert Lammfleischterrinen in Lehmformen, cremigen Hummus, auf dem ein über Feuer gegrillter Blumenkohl thront, geröstete Auberginenscheiben mit Sesampaste und Matbucha aus eingekochten Tomaten und Chilischoten. Darauf ein Klecks Joghurt mit Koriander. »Da komme ich ja genau richtig«, höre ich eine Stimme hinter uns, »gut, dass ihr schon bestellt habt.« Franka hat es vom späten Termin zu uns geschafft. Sie legt ihren hellen Mantel ab, desinfiziert sich die Hände. Franka, digitale Kommunikatorin in einer respektierten Agentur, ist eine durch und durch sterile Person. Ehrgeizig, organisiert, diszipliniert, sarkastisch.
Sie setzt sich. Wir sind jetzt zu dritt, bedienen uns von der Mitte der Tafel. Die Speisen im Yafo sind so