Joachim Bessing

Hamburg. Sex City


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      Joachim Bessing

      Hamburg.

      Sex City

      Mit 26 Fotografien

      von Christian Werner

      punctum 018

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      Für Klaus

       Denn einst bin ich schon ein Knabe gewesen

       Und ein Mädchen, ein Busch

       Und ein Vogel

       Und ein aus dem Meer springender

      Wandernder Fisch.

      nach Empedokles

      INHALT

       Weiße Neger

       Der Große Burstah

       The Cure

      Beinahe meine ganze Jugend hindurch dachte ich, Hamburg liegt am Meer. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, es scheint total verblödet, aber in dieser Ära, wo es nicht leicht möglich war, etwas aufzurufen, man sich also ein eigenes Bild machen musste, war Hamburg für mich ganz oben auf der Karte: einsam, einzig auch, und somit umtost von den Wellen des oder eines Ozeans.

      Ich hatte die Zeitschrift Tempo im Abonnement, die kam aus Hamburg nach Heimerdingen. Das nahm natürlich ein Ende mit jener Nummer, auf der die splitternackte Brigitte Nielsen abgebildet war, vorne drauf, und die Schlagzeile hieß »Im Silicon Valley«.

      Für diesen feinen Humor aus Hamburg – Nielsen hatte sich damals ihre Brüste aufpolstern lassen mit Implantaten aus Silikon (was übrigens nicht dasselbe meint wie das englische Silicon, aber dazu komme ich später noch) – hieß mich meine Mutter, dieses Abonnement umgehend zu kündigen, denn angeblich hatten die Nachbarn schon zu reden begonnen über mich, also ihren Sohn, der ja anscheinend ein Schwerenöter war – zumindest auf der schiefen Bahn befindlich. Ja, ja: der Briefträger. So war das damals. So ging das zu.

      Noch bis zu der Fahrt nach Hamburg, die wenige Monate später tatsächlich stattfand, stellte ich mir das Straßenbild dort mit Matrosen durchmischt vor. Die Stadt eher als Randgebiet eines gewaltigen Hafens, in dem es permanent und brunftig tutete. Schiffstaufen! Ich reiste mit einem Freund im Zug. Es war meine erste Reise in den Norden der BRD.

      Arnobius hatte ich im Vorjahr auf einer vom ERD, dem Evangelischen Reisedienst, veranstalteten Fahrt zu den Ägadischen Inseln kennengelernt. Es sollten die ersten Ferien ohne meine Eltern sein, und gleich nach der tagelangen Busfahrt bis nach Palermo wäre mein Ausflug auch beinahe kanarienvogelhaft beendet worden, weil ich auf der Überfahrt beim Skateboarden derart heftig gegen die Reling des Oberdecks geschleudert worden war, dass ich für zwei Augenblicke, oder bloß einen, mehrere Stockwerke tief hinunter auf das von den Schiffsschrauben schaumig aufgewühlte Wasser der weindunklen See starrte, bevor mich vier Hände am T-Shirt packten und zurück ins Leben rissen – das heißt an Deck der Nachtfähre von Palermo nach Favignana – so hieß unsere Ferieninsel nämlich und eigentlich.

      Ein ziemlich öder Ort übrigens. Mittlerweile betreibt der italienische Staat dort ein Hochsicherheitsgefängnis für Terroristen. Aufgrund ähnlicher Überlegungen hatte sich zu meiner Zeit der Evangelische Reisedienst für die Insel als Ferienort für alleinreisende Teenager entschieden: Es gab dort nichts, außer rötlichem Sand und einer ehemaligen Konservenfischfabrik. Umso intensiver beschäftigte man sich mit den Mitreisenden, von denen ich bei Antritt der Reise niemanden gekannt hatte. Durch zwei neue Freunde, die mir auf der Fähre das Leben gerettet hatten, lernte ich noch weitere Stadtkinder kennen und es kam zu einem veritablen Kulturaustausch, der freilich recht einseitig war, denn aus der ländlichen Kultur stammend, hatte ich den Bewohnern der Landeshauptstadt kaum etwas entgegenzubringen. Als einer meiner Lebensretter mir wenige Wochen nach unserer Heimkehr das Angebot machte, ihn auf einer Reise zu seinen in Hamburg lebenden Verwandten zu begleiten, nahm ich natürlich an. Von der Fahrt dorthin, die im Vorläufer des Intercity-Express, dem Intercity, stattfand und von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof etwa zehn Stunden dauern sollte, habe ich nicht allzu viele Details in Erinnerung behalten können, was maßgeblich dem Konsum von Apfelkorn zuzuschreiben ist; ein für mich ungewohntes, weil großstädtisches Ritual, infolgedessen ich den überwiegenden Teil der Fahrtzeit, bald nach dem Überqueren der baden-württembergischen Landesgrenze, in der Toilettenkabine unseres Waggons verbrachte. Noch heute wird mir ganz anders, wenn ich durch Milchglasscheiben einen sich unerbittlich dahinziehenden Streifen Grün mit reichlich Grauem darüber betrachten soll. Ein hervorragendes Beispiel für die gelungene Monumentalisierung dieser Ödnis norddeutscher Landschaften ist »Rhein II« von Andreas Gursky.

      Als ich meinen Weg zurück in das Abteil zu meinem Kameraden gefunden hatte, war draußen –– wie lange schon? seit Stunden sicherlich – ein Flachland ausgebreitet worden. Feucht und apathisch, wie tot. So hatte ich mir Norddeutschland immer vorgestellt, und so sah es auch in Wirklichkeit aus. Eine ideale Kulisse für mein Gefühlsleben. Es war 1987, ich setzte die Kopfhörer auf und hörte Kiss Me Kiss Me Kiss Me.

      In Hamburg bezogen wir ein Mehrbettzimmer auf dem Stintfang, so nannte sich die Jugendherberge mit Blick auf den Hafen. Direkt dort unten, das Gebäude war auf einer Anhöhe errichtet worden, waren die Landungsbrücken von St. Pauli zu sehen. Das sagt sich leicht, es geht einem leicht von der Zunge, wie es heißt, dabei weiß doch kaum jemand, was eine Landungsbrücke ist. Wozu sie da ist, gemacht wurde. Wie sich bald schon, in meinem persönlichen Fall im Verlauf von neun ereignisreichen Jahren, nicht den ereignisreichsten in meinem Leben, aber da es die ersten waren, hat es gereicht, herausstellen sollte, war Hamburg, die Stadt, die nicht am Meer lag, sondern an einem Zubringer des Meeres namens Elbe, voll von diesen Dingen, die einem leicht und gern von der Zunge gingen, bei denen aber niemand so genau wusste, was damit gemeint war. Grob gesagt ist Hamburg für das schwäbische Ohr aus lauter kuriosen Namen gemacht. Am Stintfang wurden vielleicht früher einmal Fische gefangen. Aber wer war der Große Burstah?

      Von all diesen Feinheiten einer maritimen Lebensweise war ich im Strohgäu zwar nicht auf die denkbar fernste Weise aufgewachsen, denn immerhin gab es auf dem Heimerdinger Friedhof das Grab eines Matrosen, von dem zumindest ein an die Innenseite der Friedhofsmauer gelehnter Grabstein übrig geblieben war, auf dem unter einer leuchtend grünen Schicht von Moos, die genauso gut auch von Algen hätte sein können, das Relief eines Ankers mit dem Ankerseil, das ihn umspielte wie eine Äskulapnatter, eingearbeitet war. Mehr dergleichen gab es aber nicht. Es wurde auch von uns daheim kaum Fisch verzehrt, eigentlich bloß mittwochs und dann Makrelen aus Konserven. Meine Neugierde auf hanseatische Spezialitäten war zwar nicht enorm, aber spürbar da.

      Aber anders, als ich es aus meinen Ferien in der Bretagne kannte, hatten die Landungsbrücken von St. Pauli überhaupt kein kulinarisches Flair, es gab keinerlei Hinweise auf eine lebendige Kultur des Fischfangs für den Lebensunterhalt der Stadtbevölkerung. Die angebotenen Hafenrundfahrten erschienen überteuert angesichts dieses Industriehafens an den Ufern eines sich bis zum trüben Horizont dahinwälzenden Elbstroms, der nun mal eher lang als breit geschwollen schien – naturgemäß, wie Thomas Bernhard geschrieben hätte. So anheimelnd wie die von ihm vertretene Weltsicht erschien mir Hamburg vom Hügel des Stintfang aus und auch noch von weiter unten, von den Landungsbrücken her besehen. Wie genau dann die Idee zustande gekommen war, sich im Freihafen umzuschauen, konnte ich schon Stunden später nicht mehr nachvollziehen – weil das Wort frei darin vorkam?

      Dort drüben gab es noch weniger zu sehen. Aber immerhin hatte man vom anderen Ufer der Elbe eine schöne Aussicht auf die Stadt. »Kommen sie rein, können sie rausgucken«, hätte mein Vater gesagt. In einem toten Winkel des Hafens, dort, wo einst die Elbphilharmonie errichtet werden würde, lag ein großes Schiff vor Anker. Es sah exakt so aus, wie ich mir die Schiffe im Hafen von Hamburg vorgestellt hatte. Ein veritabler Pott. Er war total verrostet. Sein Name stand auf einem der wenigen Reste ursprünglicher Schiffsfarbe,