Hans Leip

Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins


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      Hans Leip

      Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins

      »Wie einst Lili Marleen...«

Illustration

      Saga

      Was in eine noch so geheime

      Wirbelschleife der Golfstrom-

      Strahlung gerät, gleicht einem

      Tanz- oder Teufelsrad der Jahr-

      märkte. Man muß da standhaft

      und beweglich bleiben, sonst

      wird man abgeschnippt.

      H. L., »Der große Fluß im Meer«

      Concedo nulli!

      Erasmus von Rotterdam

      Nun also beginne ich meine Lebensbeschreibung und bemühe mich, so klar wie möglich auszusagen. Unsagbares mengt sich hinein. Denn:

      Wem wohl wäre gegeben,

      unverrückbar das zu fassen,

      was an Erleben

      ihm zugestoßen

      oder zugestreichelt ward?

      Worte stehn da,

      als wollten sie Leid tragen

      an Gräbern des Verlorenseins;

      doch schon stieben sie lachend ins Weitere.

      Viel zarter schleierzart

      und weit stichhaltiger erbost

      sollte man aussagen können

      über das, was geschah.

      Bleibt da ein Trost?

      Alle Zeilen sind Gassen

      zu einem geheimen Eins.

      Aber im Kleinen wie im Großen

      bewährt sich allein: Das innig Heitere.

      Meine Keimzelle

      verdanke ich gewiß einer aufatmenden Erleichterung. So um Weihnachten 1892. Im August jenes Jahres, just zu Goethes Geburtstag, brach die Cholera über Hamburg herein, schrecklicher als je zuvor. Ende Oktober erlosch sie ebenso jäh. Man beklagte 8605 Tote, die Hälfte aller Erkrankten. Das war das Doppelte derer, die im Hafen und an Bord zur »Schiffsbevölkerung« zählten. Und man beklagte den Rückgang des Schiffsverkehrs um ein Drittel des Vorjahres. Die Gesamteinwohnerschaft hatte sich um 2% verringert. Fünfzig Jahre später waren es auf mehr oder minder noch grausigere Weise 10% der inzwischen auf rund eine Million angewachsenen Einwohner.

      Die Freie und Hansestadt, von Wasser durchfädelt und mit den wohl meisten Brücken in Deutschland, hatte nie das beste Trinkwasser gehabt. Man entnahm es ungefiltert dem Elbstrom vor der Tür. Wie man sagte, nutzten auch Bierbrauer das Fleetwasser, das mit Abfällen aus Küchen, Müll und Kloaken saftig angereichert war. Daher der Wohlgeschmack, meinte ein Spötter. Ein paar abgelegene Feldquellen dienten nur wenigen Gescheiten.

      Bei sommerlicher Schwüle hatte sich die Seuche, vom Hafen eingeschleust, in den engen Twieten, Gängen und Hinterhöfen der Gegend explosiv ausgebreitet und, von einem trägen dürren Südwest getätschelt, bis ins luftigere Hohenfelde. Dort wohnten meine Eltern mit ihren ersten drei Kindern. Sie blieben verschont, und ich war noch nicht. Mein Vater, im Krieg 1870/71 als Sanitäter geschult, half nach Kräften, dem Unheil Halt zu bieten. Tag und Nacht mit Lysoleimer und Handfeger unterwegs. Weihwasserwedel evangelisch, nannte es jemand. Zudem hatte er unweit der Wohnung einen artesischen Brunnen mit klarstem einwandfreien Wasser entdeckt, in einem vormaligen Parkgelände, das schon größtenteils den Baulöwen in die Pranken gefallen war, bei einer Reismühle, die aber nicht mehr bestand, obschon die Straße dort den Namen behielt.

      Mein Vater wurde gerade 43 Jahre, als das Massengrab in Ohlsdorf geschlossen wurde. Zweihundertfünfzig Spaten waren tätig gewesen. Auch die rasch errichteten Cholerabaracken waren bald außer Dienst. Schwarz geteert, langgestreckt, wirkten sie später noch wie ungeheure Särge.

      Auch in der Nähe unsrer Wohnung standen einige, und vielleicht dort hat mein Vater den unermüdlichen Arzt

      Dr. Carl Lauenstein

      kennengelernt, der zudem noch im Seemannskrankenhaus und nebenbei in der Diakonissen-Heilanstalt Bethesda wirkte. Seine Privatwohnung am Schwanenwik lag auch nur zehn Minuten von der Freiligrath Allee entfernt, wo er mich in Nr. 7, Erdgeschoß, am letzten Sommertag des Jahres 1893 morgens 9¾ Uhr holte. Und das an einem Freitag, der mancherorts, und so auch bei mir, keineswegs als Unglückstag gilt. Die übliche Hebamme allerdings reichte nicht aus. Ich zögerte mit Recht, mich ins ungewisse Dasein zu begeben. Der Senat verlieh meinem Helfer später den Titel Professor. Nicht meinetwegen, sondern erst zwanzig Jahre später, als der geachtete Chirurg seine amtlichen Posten aus Gesundheitsgründen aufgab.

      Schon zwei Jahre darauf starb er mit 65, und das an einer Blinddarmentzündung, er, der so manchen in solchem Ernstfall erfolgreich beigestanden. Sein hochstirniges, vollbärtiges, gütiges Profil findet sich in Bronze auf einem Gedenkstein aus Muschelkalk im Garten des Hafenkrankenhauses. Es liegt im Blickwinkel des Dienstzimmers von Medizinaldirektor Dr. Küper. Da er mein Schwiegersohn ist, rundet sich die Angelegenheit zufällig und nicht unapart hinsichtlich des von ihm erwartbaren Nachrufs. Er hat überdies meine hier vorliegende Selbstbetrachtung angeregt.

      In Hamburg war es üblich, den stattlichen Fronten der Etagenhäuser billigere Wohnungen hintanzufügen, um auch dort noch möglichst viel aus dem vormals begrünten Grundstück zu pressen. Namentlich die sogenannte Gründerzeit nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich war darin skrupellos. Nach der großen Seuche wurde allerdings manches allzu Enge und sanitär Bedenkliche niedergerissen. Immerhin war es meistens malerischer gewesen als das, was danach entstand. Schleunigst wurde nun auch der bislang lässig betriebene Bau einer Filtrieranlage oberhalb des Hafens nach englischen Plänen vollendet. Dadurch und im Fortschritt der Wissenschaften wurde die Elbmetropole vor weiterem asiatischen Unheil bewahrt. Immerhin hatte Robert Koch den Erreger schon zehn Jahre zuvor entdeckt.

      Senior Pastor Behrmann hoffte – mit rosigem Haupt auf dem Teller der senatsgleichen Halskrause – abschließend: »daß unser Volk der Lehren der Gottlosigkeit innewerde, die viele wie Wasser einschlürfen, und nicht mehr vergeblich den Ruf der Kirchenglocken vernehme: Kommet zu dem Wasser des Lebens, kauft ohne Geld und umsonst!« Er bedachte nicht den Doppelsinn des Wortes »umsonst«, der jedem rund um die Alster als »vergebens« geläufig ist.

      Die Hinterfrontzeilen hießen vormals Gang oder Hof. Jetzt taufte man sie hochtrabend Terrasse oder Allee. Letztere pflegte etwas geräumiger zu sein und hatte winzige Vorgärten. In einer solchen Allee, ich sagte es schon, kam ich zur Welt. Sie war nach jemandem benannt, von dem nur wenige Hamburger wußten, daß damit ein Dichter geehrt wurde. Meiner Säuglingssicht boten sich vorm Fenster ein paar Fliederzweige. Das war alles, was von den zerstörten Parkgefilden übriggeblieben war.

      Meine Neigung zu mehr

      scheint dort Wurzeln geschlagen zu haben.

      Von nichts kommt nichts, sagt man. Meine Mutter und meine Schwestern Gretchen und Else, sie waren zwischen fünfzehn und fünf Jahre älter als ich, sangen mich mit kleinen Liedern in Schlaf. Mein zehnjähriger Bruder Willy bastelte mir einen Hampelmann und faltete mir aus einem Stück Papier ein Schiff. Mit seiner Laubsäge zauberte er aus einem Zigarrenkistendeckel überdies ein Pferd.

      Liederverse, bewegte Figuren, Schiffe und Pferde

      sind mir wohl darum mein Leben lang das gewesen, was eine gewisse Psycho-Forschung Statussymbole oder Archetypen nennt.

      Auch ist eine mir früh geschenkte Negerpuppe zu erwähnen. Sie wirkte viermal literarisch nach, einmal als Knabe Kubi in der Erzählung »Der Nigger auf Scharhörn«, zum andern als Josua Burn im Roman »Die Blondjäger«. Drittens in der Komödie »Kolonie« und viertens in der Kurzgeschichte »Tanzinsel«.

      Hingegen