Unni Lindell

Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi


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      Unni Lindell

      Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi

      Saga

      Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi ÜbersetztGabriele Haefs Copyright © , 2019 Unni Lindell und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726344134

      1. Ebook-Auflage, 2019

      Format: EPUB 2.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

      Der Orchestergraben trennt Schauspieler

      und Publikum. Trennt das künstliche Leben

      vom wirklichen Leben. Ist ein dunkler Gürtel

      zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit.

      Ist ein Grab, in dem die Musik lebt.

      Pavel Pletanek

       Er öffnete die Tür und betrat den Gang des Pflegeheims. In der Hand hielt er das blutige Glasherz. Es war Samstag, der 8. Januar. Es war 14:55 Uhr. Seine abgenutzten Turnschuhe schlurften über das Linoleum. Ein ekelerregender Geruch nach grüner Seife mischte sich mit dem fettigen Essensgestank. Ein schmales Fenster ließ einen Streifen kalten Lichtes durch sein buckliges Glas sickern. Draußen konnte er die Umrisse eines großen, blattlosen Baumes sehen.

       Er würde sich niemals von dem Bild der toten Frau auf dem gefrorenen Boden befreien können. Diesen Anblick würde er auf ewig mit sich herumtragen müssen. Das Bild schob sich wie ein Foto vor seine Netzhaut: Die offenen Augen, das strömende Blut, der rosa Mantel und die schwarzen Stiefel. Nachdem er sie getötet hatte, war er neben ihr in die Hocke gegangen und hatte ihr den Schmuck abgenommen.

       Er ging an drei Türen vorbei, dann blieb er vor der vierten stehen. Er drückte auf die Klinke und ging ins Zimmer.

       Die alte Frau im Sessel am Fenster strahlte. »Ach, mein Lieber«, sagte sie und klatschte leise in die dünnen Hände, »du kommst?«

       Er lächelte und ging zum Waschbecken. Die Tür fiel hinter ihm zu, dann war die Stille wieder da. Er drehte den Wasserhahn auf und spülte Blut von dem blauen Glasherz. Dann trocknete er es mit dem Handtuch ab, ging zu ihr, blieb stehen und legte für einen Moment die Ellbogen auf die Sesselkante. Die alte Frau drehte sich um, um zu sehen, was er da machte. Er schaute auf sie hinab, sah die nackte Kopfhaut zwischen den dünnen grauen Haarsträhnen. Er beugte sich vor, legte ihr den Schmuck um den dünnen runzligen Hals und ließ das kleine Silberschloss zuschnappen.

       »Aber du Lieber«, sagte sie mit zitternder Stimme, hob die Hände und betastete den Schmuck.

       »Für mich? Aber Weihnachten ist doch schon vorbei!«

       »Ja«, sagte er. »Weihnachten ist schon vorbei. Aber du hast doch bald Geburtstag.« Er hätte mehr sagen können, aber er wusste, dass er nicht so viel zu sagen brauchte. Er hätte sagen können, das Glasherz sei für sie von ihm, weil sie ihm Flügel herbeigeträumt hatte, als er noch klein gewesen war. Und so hatte sie ihn gerettet, wenn die Angst kam, wenn es schwer war, ein Mensch zu sein. Oft dachte er, es wäre leichter, kein Mensch zu sein. Er könnte doch wegfliegen, denn sie hatte ihm die Flügel gegeben. Für immer.

       Es war die Verletzung in ihm, die ihn böse gemacht hatte. Aber die alte Frau im Sessel hatte ihn wiederum daran gehindert, noch böser zu werden. Jetzt hob sie die Hand, und er beugte sich vor und fasste ihre zitternden Finger. Plötzlich merkte er, wie sein innerer Druck verflog, der heftige schmerzliche Druck, den er die ganze Nacht mit sich herumgeschleppt hatte. Jetzt gab es nur noch Leere, die ihn von innen her bedrängte. Er hob den Blick und starrte das kalte Sonnenlicht an, das durch das Fenster fiel und sich als dicker Streifen über den Boden zog. Bald würde auch dieser Tag in Dunkelheit übergehen.

       Er hörte seine Herzschläge, ein leeres dumpfes Geräusch in seinem Brustkasten. Nichts würde wie früher sein, von nun an würde das Leben ihn mit einem boshaften Lächeln begrüßen und ihn mit einem Rachen voller spitzer Zähne anlachen. Er hatte das Gefühl, allein hier im Zimmer zu stehen und zu verschwinden. Er würde so weiß wie die Wände werden, so grau wie der Boden und so viereckig wie der abgenutzte Nachttisch neben dem Eisenbett. Er befand sich in einer Dunkelheit, die nur in eine andere Dunkelheit übergehen würde. Das einzige Wort, das ihm im Moment einfiel, war gewaltig. Gewaltig einsam. Gewaltig dunkel.

      (Zwanzig Stunden früher)

       Sie führte den Bogen wie eine Waffe, hin und her, heftig und ruckhaft. Die Stimmen der Bratschen waren stärker als die der Violinen, wie soeben in den Stimmbruch gekommene Knaben. Sie trug ein blaues Glasherz um den Hals. Es bewegte sich hin und her, im Takt ihrer Bewegungen.

       Er spürte einen leichten Freudenschauer über sein Rückgrat laufen. Aber diese Freude war in Finsternis getunkt. Er saß so dicht beim Orchestergraben, dass er auf den Schultern des Dirigenten einige kleine weiße Schuppen sehen konnte. Von hinten sah der Dirigent aus wie eine Heuschrecke. Seine grauen Haare waren von der Dämmerung eingerahmt, während der unterste Teil von Rücken und Frack von den kleinen Notenständerlampen der Streicher gelb gefärbt wurde. Sein restlicher Körper verschwand unten im Schwarzen.

       Er starrte in den Orchestergraben. Seine Blicke richteten sich auf sie. Er konnte sehen, wie sie ihr Kinn auf die Kante ihres Instrumentes legte. Sie schüttelte ein wenig den Kopf, um ihre blonden Haare zurechtzulegen. Dann konzentrierte sie sich auf die Noten.

       Er wusste, wie man fliegen sollte. Man sollte langsam über den Boden fliegen, während man lauschte. Die Musik hatte keine Worte, hatte keine Buchstaben. Das Ohr absorbierte die Geräusche, maß die Entfernung zwischen den Tönen und wog die Magie zwischen ihnen. Die Gefühle fraßen sich in den Leerraum zwischen Abwesenheit und Nähe. Die Musik beruhigte ihn. Der Pulsschlag der Musik strömte mit dem Blut zum Herzen.

       Er drehte sich um und sah Reihen von Körpern, dicht aneinander. Blanke Augen in der Dunkelheit.

       Erst im letzten Akt, als der Schwan starb, verspürte er die Angst. Denn draußen war die Nacht dunkel wie Ruß. Und obwohl der Panzer, den er gegen seine Gefühle aufgebaut hatte, dicker und dicker geworden war, wusste er doch nicht, wie es gehen würde. Deshalb hatte er ein Messer gekauft.

       Bald würde die Vorstellung zu Ende sein, bald würde alles zu Ende sein. Er lauschte den letzten Tönen. Dünn, schmerzhaft. Stark.

       Als der Vorhang sich senkte und alle klatschten, verspürte er eine tiefe melancholische Zufriedenheit, die ihn ruhig werden ließ. Er würde sie töten. Bald würde sie tot sein. Manchmal musste man einfach das ausführen, wozu man sich entschlossen hatte. Nicht zögern, einfach handeln.

      Es war kein richtiger Winter, kein Schnee. Obwohl es Anfang Januar war, schien es weiterhin Oktober zu sein, als seien alle Tage im Oktober erstarrt. Der spärliche Schneefall des ersten Weihnachtstages war schon längst geschmolzen, und das Wasser war zu einer neuen Eisschicht gefroren.

      In Asker schlief Polizeihauptkommissar Cato Isaksen im Reihenhaus neben seiner Frau, ohne auch nur zu ahnen, dass in eben diesem Augenblick ein Messer durch die dünne Halshaut einer anderen Frau gestochen wurde.

      Wenn man dieses Bild aus dem Zusammenhang gerissen hätte, sähe es so aus: Die metallische Klinge zerschnitt die dünne Oberfläche und steckte innerhalb von Sekunden tief in Muskeln und Fleisch. Unter einem Vergrößerungsglas sieht Haut aus wie eine Landschaft. Die scharfe Klinge des Messers durchtrennte Gewebe und Adern. Die Frau versuchte zu schreien.