Lothar Streblow

Barro, der Braunbär


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Tal und der gegenüberliegende Steilhang, die flechtenüberzogenen Felsen und der düstere Bergwald darüber. Ein leichter Wind wehte um seine Nase. Und als Barro in einen tauenden Schneefleck trat, zog er erschrocken die Pfote zurück und flüchtete zu seiner Mutter, wo Burri zwischen ihren Beinen hervorlugte. In ihrer Nähe fühlte er sich sicherer.

      Nasse Pfoten

      Die Bärin spürte die Angst ihrer Kinder, ihre Angst vor dem Ungewohnten. Die Kleinen mußten erst lernen, sich in dieser unbekannten Welt zurechtzufinden. Und sie mußte ihnen dabei helfen.

      Vor allem aber brauchte sie endlich etwas in den Magen. Während sie in früheren Jahren im Winter ohne zu essen und zu trinken vier bis fünf Monate durchschlafen konnte, war das in diesem Jahr anders gewesen. Im Januar hatte sie ihre Kinder geboren. Und ihre Ernährung hatte zusätzlich an ihren Kräften gezehrt. So war sie magerer als sonst im Frühling.

      Entschlossen bewegte sie sich ein Stück hangabwärts. Tief sanken ihre breiten Tatzen in den wäßrigen Pappschnee. Doch auch auf schneefreien Stellen lief es sich nicht besser. Das Erdreich war vom Tauwasser aufgeweicht und glitschig. Manchmal rutschte sie, trotz ihrer scharfen Krallen. Aber das störte sie nicht. Sie wollte hinunter zum Bach. Dabei blickte sie sich immer wieder besorgt nach ihren Kindern um.

      Barro fand das unheimlich. Noch nie hatte seine Mutter sich so weit von ihm entfernt. Wohl oder übel tappte er ein paar Meter weiter, platschte durch Schneeinseln und Matsch. Seine Pfoten wurden naß, Schlamm spritzte gegen seinen Bauch. Und die hellfarbene Halsbandzeichnung auf seinem braunen Fell bekam schmutzige Flecken.

      Mit einemmal sah er, wie seine Mutter stehenblieb. Immer wieder rieb sie ihre Schnauze an einem knorrigen Baumstamm. Es sah aus, als wolle sie sich an der rauhen Borke kratzen. Barro wußte noch nicht, daß sie auf diese Art mit einer stark duftenden fettigen Spur ihr Revier markierte, um fremde Bären vom Eindringen abzuhalten. Nach den langen Monaten des Höhlendaseins mußten die verblaßten Markierungen auf dem alten Wechsel von der Höhle zum Bach erneuert werden. Und die Bärin setzte ihre Duftmarken noch an viele Stellen.

      Zwischendurch suchte sie unentwegt nach Eßbarem, wühlte Wurzeln aus dem schlammigen Boden, zerrte an nassem, braunwelkem Gras vom Vorjahr und schmatzte einen Regenwurm. Und sie wendete immer wieder Steine um und leckte die Ameisen darunter ab. Doch das alles genügte ihr nicht. Sie suchte nach nahrhafterer Beute.

      In dem unebenen Gelände hatten die beiden Bärenkinder alle Mühe, ihrer Mutter zu folgen. Sie waren ja kaum erst so groß wie ein kleiner Spitz: mit dickpelzigen Köpfen und tapsigdicken Pfoten. Gegen ihre riesige Mutter wirkten sie winzig. Und Laufen war für sie ungewohnt, zumal auf so glitschigem Untergrund an dem abschüssigen Hang.

      Mit unsicheren Schritten tappelten sie abwärts, stolperten und rutschten. Und unversehens verlor Barro den Boden unter den Füßen, überschlug sich ein paarmal und purzelte kopfüber in einen Schneefleck.

      Ein klägliches Wimmern drang aus seiner Kehle. Nasser Schnee klebte ihm auf der Nase. Und noch bevor er sich aufrappeln konnte, beugte seine Mutter sich besorgt über ihn. Vorsichtig packte sie ihn mit den Zähnen im Nackenfell, trug ihn ein paar Meter weiter und setzte ihn auf ein weiches Moospolster. Das gefiel Barro. Er mochte lieber getragen werden als selber laufen. Außerdem saß ihm der Schreck über seinen Sturz noch in den Gliedern. Er blieb einfach sitzen und wartete.

      Dafür aber hatte seine Mutter wenig Sinn. Sie merkte sehr rasch, daß ihm nichts weiter passiert war. Besorgt hielt sie nach Burri Ausschau, die bei Barros Sturz erschrocken stehengeblieben war. Jetzt kam sie heran und tappte dann folgsam hinter ihrer Mutter her.

      Barro brummte unwirsch, als die beiden sich immer weiter entfernten. Schließlich begriff er, daß er seine eigenen Beine benutzen mußte. So schnell er konnte, rannte er ihnen nach. Und er erreichte sie, als seine Mutter in einer schmutzig-weißen Schneewehe zu wühlen begann.

      Erschöpft setzte er sich auf sein Hinterteil und sah zu. Für ihn war alles hier draußen geheimnisvoll. Irgend etwas mußte seine Mutter unter dem Schnee entdeckt haben. Unentwegt zerrte sie an etwas herum. Und sie kaute und schmatzte. Was das einmal gewesen sein konnte, war nicht mehr zu erkennen. Jedenfalls war es Fleisch: Fleisch von einem toten Tier, das im Winter hier erfroren war. Und das hatte die Bärin mit ihrem scharfen Geruchssinn im Schnee aufgespürt.

      Befriedigt leckte sie sich über die Lippen, trank noch ein paar Schluck Wasser am Bach und stapfte wieder hangaufwärts. Ihr quälendster Hunger war erst mal gestillt. Und jetzt spürte sie die Frühjahrsmüdigkeit.

      Es wurde Zeit für den Mittagsschlaf. Und auch die beiden Kleinen brauchten nach dem anstrengenden Ausflug ihre Ruhe.

      Barros erste Kletterpartie

      Nach ein paar Tagen hatte Barro sich an den neuen Lebensrhythmus gewöhnt. Wenn vom Höhleneingang der helle Schimmer der Morgensonne eindrang, krabbelte Barro unruhig herum. Er wollte hinaus.

      Aber vorher wollte er seine Milch. Nur lag seine Mutter nicht immer so, daß er bequem an seine Milchquelle herankam. Dann stupste er sie ungeduldig und bohrte seine kleine Schnauze irgendwo in ihr Fell. Und Burri versuchte es an einer anderen Stelle, bis die Bärin sich schläfrig brummelnd herumwälzte und ihre Kinder trinken ließ.

      Barro schmatzte genießerisch, leckte sich ein paar Milchtropfen vom Brustfell und blinzelte ins Dämmerlicht. Auch Burri saugte nicht mehr so eifrig. Die Bärin spürte, daß ihre Jungen satt waren. Und sie erhob sich von der Lagerstreu und tappte zum Ausgang. Jetzt brauchte sie ihr Frühstück.

      Die Kleinen mußte sie nicht erst hinausscheuchen. Angst hatten sie nicht mehr. Im Gegenteil. Vor Neugier konnten sie es kaum erwarten, endlich ins Freie zu kommen. Ungestüm drängelten sie gegen ihre Hinterkeulen.

      Draußen roch es feucht. In der Nacht hatte es geregnet. Die Schneeinseln waren zusammengeschmolzen. Und der erdige Boden war noch glitschiger als am Vortag. Wolkenfetzen trieben am blaßblauen Himmel, verdeckten mitunter die Sonne. Und ein frischer Wind wehte von den weiß schimmernden Berggipfeln. Dort oben war Neuschnee gefallen.

      An diesem Morgen nahm die Bärin einen anderen Weg, nicht hinunter zum Bach. Sie stapfte seitlich von der Höhle auf den Hangwald zu. Hier standen die Bäume dichter, begann hinter vereinzelten Fjällbirken und wildem Himbeergestrüpp ein steil ansteigender Bergfichtenwald. Und dort brauchte sie nicht lange zu suchen. Ihre Spürnase führte sie zu einem Mäusenest.

      Barro interessierte sich noch nicht für Mäuse. Er beäugte nur neugierig eine flüchtende Maus, die seiner Mutter gerade noch entkommen konnte. Dann beschnüffelte er aufmerksam den Stamm einer Fjällbirke, an dem es sehr fremdartig roch. Diesen Geruch kannte er noch nicht.

      In diesem Augenblick hörte er über sich ein Geräusch. Verdutzt blickte er nach oben. Im kahlen Gezweig turnte etwas herum: ein kleines dunkelbraunes Tier mit buschigem Schwanz. Und dieses zierliche, schlanke Wesen hüpfte flink von einem wippenden Zweig zum anderen, und von dort zum nächsten Baum und verschwand dann im grünen Wipfel einer Fichte.

      So schnell konnte Barro mit den Augen kaum folgen. Geblieben war nur der fremdartige Geruch: der Geruch nach Eichhörnchen. Und die Geruchsspur führte stammaufwärts.

      Schnuppernd hob Barro seine kleine Nase, streckte sich und stellte sich aufrecht auf die Hinterbeine. Seine Vordertatzen umkrallten den Stamm. Langsam zog er sich hoch, griff nach. Barro kletterte, kletterte den Baum hinauf. Und er kletterte weiter. Das brauchte er nicht zu lernen. Klettern war ihm angeboren. Und es machte ihm Spaß.

      Irgendwo im Wald hämmerte ein Specht. Über den Berghang glitt ein Schatten. Ein Kolkrabe kreiste gemächlich tiefer, rief mit rauher Stimme nach seiner Gefährtin. Er hatte die Bären entdeckt, wartete auf die Reste ihrer Mahlzeit. Ganz nah sah Barro den großen schwarzen Vogel.

      Plötzlich wackelte der Baumstamm. Barro erschrak. Ängstlich blickte er nach unten. Da kam noch jemand, scharrte mit den Krallen an der Borke. Von oben sah Barro nur den braunpelzigen Kopf mit der schwarzledernen Nase. Es war Burri, seine Schwester. Sie wollte ihm nachklettern.

      Dieses Spiel gefiel Barro. Eifrig kletterte er weiter. Hier in