Seitenast.
Nur, sehr weit kam er darauf nicht. Der Ast wurde immer dünner, schwankte und schaukelte. Nach vorn ging es auch nicht mehr. Und Barro bekam ein unheimliches Gefühl.
Inzwischen hatte die Bärin ihre Mäusemahlzeit beendet. Sie sah Burri den Stamm hinaufklettern und Barro oben auf dem dünnen schwankenden Ast. Und sie wußte, daß sie eingreifen mußte. Noch waren die Kleinen zu unerfahren, konnten die Tragfähigkeit der Äste noch nicht abschätzen. Und aus ihrer Kehle drang ein energisches Brummen.
Burri zögerte. Sie war ja erst auf halber Höhe. Und eigentlich wollte sie lieber hinauf zu Barro. Doch sie spürte wohl Barros Not. Und sie gehorchte ihrer Mutter. Vorsichtig glitt sie abwärts.
Barro aber hatte es viel schwerer. Erst mußte er mal rückwärts bis zum Stamm. Und der Ast schaukelte und wippte unter seinem Gewicht. Doch umzudrehen wagte Barro sich nicht. Der Erdboden lag so tief unter ihm, so unheimlich tief. Barro stieß einen kläglichen Laut aus. Dann rutschte er wieder rücklings ein Stück auf dem Ast entlang, ganz langsam. Endlich stieß er mit seinem Hinterteil gegen den Stamm.
Nun konnte Barro sich umdrehen. Er brummte erleichtert, tastete mit seiner rechten Hintertatze unbeholfen nach der nächsttieferen Astgabel, erwischte sie mit den Krallen. Und Barro begriff: Das war kein Spiel, das war harte Arbeit. Und er blickte nach unten, vor jedem Tritt. Dann war da keine Astgabel mehr, nur noch der glatte Stamm. Barro bohrte seine Krallen in die Borke. Und er schnaufte. Und als er nur noch einen knappen Meter über dem Boden war, ließ er sich einfach hinunterplumpsen, überkugelte sich und blieb liegen, erschöpft und ziemlich verwirrt.
Seine Mutter leckte ihn tröstend, leckte mit ihrer weichen rosigen Zunge über seinen kleinen Bauch und seine zerschrammte Nase. Das war ein angenehmes Gefühl. Barro brummte leise und zufrieden. Und dann gab es erst einmal Milch.
Der Järv
Allmählich wurde es wärmer, auch in den Nächten. Geschneit hatte es nicht mehr. Auf den Bergen schmolzen die Schneekappen. Nur auf den höchsten Gipfeln und an den Nordflanken glitzerte es noch weiß im Sonnenlicht.
In den Tälern aber begann es zu grünen. Hier im Norden waren die Sommer kurz. Überall sprossen Gräser und Kräuter aus dem Boden, die Knospen an den Zweigen sprangen auf. Und an sonnigen Flecken zeigten sich die ersten Blüten.
Barro schnupperte die würzige Luft, tauchte seine kleine Nase in die Blütenkelche und stutzte. Eine der Blüten flatterte davon. Aber das war keine Blüte, das war ein Schmetterling. So was kannte Barro noch nicht.
Tolpatschig hopste er hinterher, wollte das seltsame Flatterding fangen, grapschte mit der Pfote danach. Doch der Schmetterling flog höher, unerreichbar hoch. Auch Aufrichten nützte nichts. So blieb Barro stehen, leicht schwankend, aufrecht auf den Hinterbeinen. Verdutzt sah er den Schmetterling im lichten Blau entschwinden.
Aber dort oben flog noch etwas anderes, viel Größeres. Eine Nebelkrähe glitt vom Berghang herüber. Ihr mattgraues Gefieder schimmerte hell in den Strahlen der Sonne.
In diesem Augenblick hörte Barro hinter sich eiliges Getappse. Burri kam den Steilhang herabgesaust. Steine kollerten. Und dann erhielt Barro einen Stoß, daß er rückwärts taumelte und umfiel. Burri wollte mit ihm spielen. Und sie setzte Barro ihre kleine Pfote auf den Bauch.
Das gefiel Barro. Unvermittelt rollte er sich herum. Jetzt purzelte Burri ins Gras, mit der Nase zuerst. Und Barro schnappte nach ihrem weichpelzigen Ohr und zog daran, ziemlich heftig. Burri stieß einen kläglichen Laut aus. Das klang wie eine Mischung aus Quäken und Grunzen. Und sie wehrte sich verzweifelt mit ihren Tatzen.
Besorgt blickte die Bärin zu ihren Kindern hinüber. Sie hatte am Bachufer einen angetriebenen toten Schneehasen entdeckt. Und sie wollte ihn gerade aus dem Wasser ziehen, als sie den Lärm der beiden über sich hörte. Doch die zwei spielten schon wieder friedlich.
Burri hatte sich aufgerappelt und lief ihrem Bruder davon. Und Barro sauste hinter ihr her dem Bachufer zu. Kurz darauf waren die beiden hinter einem Ufergebüsch verschwunden. Und die Bärin grub ihre Zähne beruhigt in das Fleisch des Schneehasen.
Plötzlich stutzte Barro. Von Burri war nichts mehr zu sehen. Sie war um das Gebüsch herumgelaufen. Aufmerksam blickte er sich um und schnüffelte am Boden, suchte nach Burris Spur. Da trug ihm der Wind einen anderen Geruch in die Nase. Und vom Oberlauf des Baches kam auch jemand: eine gedrungene Gestalt mit dichtem langem bräunlichem Fell.
Was da auf dicken Pfoten so gemächlich herantappte, sah aus wie ein kleiner Bär, allerdings schon um einiges größer als Barro. Nur war dieser Bär gar kein Bär, es war ein Järv, ein ausgewachsener Bärenmarder: ein Vielfraß. Und der Järv suchte nach Beute.
Jetzt wurde es Barro doch ein wenig unheimlich. Mit fremden Tieren hatte er noch kaum Erfahrung und mit größeren schon gar nicht. Und dieser seltsame Bär kam direkt auf ihn zu: mit gebleckten Zähnen. So schnell er konnte, lief Barro bachabwärts zu seiner Mutter.
Die Bärin witterte aufmerksam, witterte den Järv. Lauschend hob sie ihren mächtigen Kopf. Sie wußte, daß ein Järv ihren Kindern gefährlich werden konnte; der nahm es sogar mit einem Wolf auf. Und ihre Jungen waren noch viel zu klein.
Ängstlich drückten die beiden sich hinter ihre Mutter, spürten instinktiv die Gefahr. Und dann sahen sie den Järv näher kommen. Gegen die Bärin wirkte er fast winzig. Doch seine kleinen dunklen Augen musterten furchtlos die riesige Gestalt.
Und jetzt geschah etwas Seltsames. Die Bärin ließ den toten Schneehasen liegen. Sie überließ dem Järv ihre Beute, machte einfach kehrt und lief den Hang hinauf. Und ihre Kinder scheuchte sie vor sich her.
Aus langen Jahren hatte die Bärin ihre Erfahrungen. Ein Järv konnte mit seinen Drüsen im Hinterteil drei Meter weit spritzen: eine gelblichgrüne, stinkende Flüssigkeit. Und noch Wochen danach haftete der widerliche Gestank im Pelz. Für empfindliche Bärennasen war das kaum zu ertragen. So ging die Bärin dem Järv lieber aus dem Weg.
Davon hatte Barro noch keine Ahnung. Er sah nur von weitem, wie der Järv in aller Ruhe an dem Hasenrest schmatzte. Seine Stinkwaffe war Barro noch einmal erspart geblieben.
Unheimliches Gebrumm
Nebelschwaden waberten über dem Berghang, hüllten das Tal in fahles Dämmerlicht. Die Sonne war nicht zu erkennen, nur ein kraftloser Schimmer hinter undurchdringlichem Grau. Und die Luft roch feucht.
Die Bärin schien das nicht zu stören. Unbeirrt stapfte sie auf dem alten Wechsel zum Bach. Sie verspürte Durst, wollte trinken. Und die Kleinen folgten ihr.
Murmelnd plätscherte der Bach über rundgeschliffenes Geröll. Vorsichtig kletterte Barro auf einen Stein, tauchte seine Pfote ins Wasser. Das fühlte sich kalt an, kalt und naß. Und er leckte ein wenig davon. Das Wasser schmeckte ihm nicht. Er mochte lieber Milch. Aber Milch gab es jetzt nicht. Die beiden hatten ihre Morgenportion schon bekommen.
Burri machte es ihrem Bruder nach, geriet dabei aber auf einen ziemlich wackligen Felsbrocken. Der Fels kippte zur Seite. Und Burri platschte spritzend ins Wasser. Barro bekam eine Dusche. Und Burri krabbelte eilig aus dem Bach, tropfnaß und ein wenig verstört.
Inzwischen hatte die Bärin ihren Durst gestillt. Beunruhigt betrachtete sie das nasse Fell ihrer Kinder. Jetzt brauchten die beiden erst mal Wärme. In der feuchten Nebelluft würde es lange dauern, bis sie trockneten. Hier in dem schmalen Tal hielt sich der Nebel am längsten.
Aber sie wußte einen Weg. Sie kannte ihr Revier, das von dem stillen Waldsee an der unteren Talsohle bachaufwärts über den Fichtenwaldgürtel und die obere Birkenzone bis zur baumlosen Gebirgssteppe reichte, wo auf der weiten Tundra im Sommer die Krähenbeeren wuchsen. Dort oben fegte der Wind die Nebel von den kahlen Kuppen.
Mit einem energischen Brummen rief sie ihre Kinder. Groß genug waren sie inzwischen für eine Bergwanderung. Folgsam tappten die beiden hinter ihr her: über Geröll und freiliegende Wurzeln, durch nebelverhangenen Fichtenwald und dorniges Gestrüpp. Dumpf klangen die Geräusche ihrer Schritte im dichten Nebel.
Doch