James Joyce

Dublin


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      James Joyce

      Dublin

      NOVELLEN

      Übersetzt Georg Goyert

      Saga

      Dublin ÜbersetztGeorg Goyert Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1914, 2020 James Joyce und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642827

      1. Ebook-Auflage, 2020

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

      – a part of Egmont www.egmont.com

      DIE SCHWESTERN

      Diesmal gab’s für ihn keine Hoffnung mehr: es war der dritte Anfall. Jeden Abend war ich am Hause vorbeigegangen – (es war Ferienzeit) – und hatte das erhellte Fensterviereck beobachtet; und jeden Abend war es in der gleichen Weise erhellt gewesen, schwach und gleichmäßig. Wenn er tot wäre, so dachte ich, würde ich Kerzenschein auf dem dunklen Vorhang sehen, denn ich wußte, daß man zu Häupten einer Leiche zwei Kerzen aufstellen muß. Oft hatte er zu mir gesagt: Lange mache ich’s nicht mehr mit, und ich hatte geglaubt, seine Worte seien leeres Gerede. Jetzt aber wußte ich, daß sie wahr waren. Jeden Abend, wenn ich nach dem Fenster hinaufblickte, sagte ich leise das Wort Paralyse vor mich hin. Es hatte immer so seltsam in meinen Ohren geklungen, genau so wie das Wort Gnomon bei Euklid und das Wort Simonie im Katechismus. Jetzt aber klang es mir wie der Name eines boshaften, teuflischen Wesens. Es füllte mich mit Furcht und doch trieb es mich, ihm näher zu sein, sein tödliches Werk zu sehen. Als ich zum Abendessen nach unten kam, saß der alte Cotter am Feuer und rauchte. Während meine Tante meinen Haferbrei auf den Teller füllte, sagte er, als käme er auf eine vorher gemachte Bemerkung zurück:

      »Nein, ich will nicht grade behaupten, daß er . . . aber etwas stimmte da nicht . . . hatte so was Unheimliches. Ich will euch sagen, was ich meine . . .« Er begann an seiner Pfeife zu saugen und legte sich im Geiste zweifellos seine Meinung zurecht. Langweiliger, alter Narr! Als wir ihn kennenlernten, war er meist ziemlich interessant, redete von Ohnmachten und Würmern; aber ich bekam ihn und seine endlosen Geschichten über Destillation bald leid. »Ich habe darüber so meine eigene Theorie«, sagte er. »Ich meine, es war einer von diesen . . . besonderen Fällen . . . Ja, das ist nicht so leicht zu sagen . . .«

      Wieder sog er an seiner Pfeife, ohne uns aber seine Theorie wissen zu lassen. Mein Onkel sah, wie ich ihn anstarrte, und sagte zu mir:

      »Ja, nun ist dein alter Freund nicht mehr; das tut dir sicher sehr leid.«

      »Wer?« sagte ich.

      »Pater Flynn.«

      »Ist er tot?«

      »Herr Cotter hat es uns eben erzählt. Er ist am Hause vorbeigegangen.«

      Ich wußte, daß man mich beobachtete, und so aß ich denn ruhig weiter, als hätte mich die Nachricht gar nicht interessiert. Mein Onkel sagte zu dem alten Cotter: »Der Junge und er waren nämlich große Freunde. Der Alte hat ihm allerlei beigebracht; er soll ihn sehr gerne gehabt haben.«

      »Gott sei seiner Seele gnädig«, sagte fromm meine Tante. Der alte Cotter sah mich kurze Zeit an. Ich fühlte, daß seine kleinen, schwarzen, runden Augen mich prüfend musterten; aber ich wollte ihm den Gefallen nicht tun, von meinem Teller aufzusehen. Er beschäftigte sich wieder mit seiner Pfeife und spuckte dann frech ins Feuer.

      »Ich litte es nicht«, sagte er, »daß meine Kinder zu viel mit so einem zusammen wären.«

      »Wie meinen Sie das, Herr Cotter?« fragte meine Tante.

      »Nun, ich meine«, entgegnete der alte Cotter, »daß das nichts für Kinder ist. Meine Ansicht ist folgende: ein Junge soll rumlaufen und mit gleichaltrigen Jungens spielen und nicht . . . habe ich nicht recht, Jack?«

      »Das ist auch mein Grundsatz«, sagte mein Onkel. »Boxen soll er lernen. Das predige ich diesen Rosenkreuzern hier schon lange: soll turnen. Ja, als ich so’n Junge war, wurde jeden Morgen, ob Sommer oder Winter, kalt gebadet. Und deshalb bin ich jetzt auch so gesund. Bildung ist ja ganz schön und gut . . . Vielleicht nimmt Herr Cotter ein Stück von der Hammelkeule«, sagte er dann zu meiner Tante.

      »Nein, nein, nur keine Umstände«, sagte der alte Cotter.

      Meine Tante nahm die Schüssel aus dem Büfett und stellte sie auf den Tisch.

      »Aber warum scheint Ihnen, Herr Cotter, das nicht gut für Kinder?« fragte sie.

      »Es ist für Kinder schädlich«, sagte der alte Cotter, »weil ihr Geist so empfänglich ist. Wenn Kinder so was sehen, verstehen Sie, dann wirkt das . . .«

      Ich stopfte mir Haferbrei in den Mund, weil ich. sonst vor Wut losgeplatzt wäre. Alter, langweiliger, rotnasiger Schafskopf!

      Es war spät, als ich einschlief. Wenn ich auch auf den alten Cotter wütend war, daß er mich als Kind behandelte, zermarterte ich mir den Kopf, den Sinn seiner unvollendeten Sätze zu ergründen. In der Dunkelheit meines Zimmers glaubte ich, das schwere, graue Gesicht des Gelähmten wiederzusehen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte an Weihnachten zu denken. Aber das graue Gesicht ließ mich nicht los. Es sprach ganz leise; und ich begriff, daß es etwas beichten wollte. Ich fühlte, wie meine Seele zurückwich an einen Ort der Lust und des Lasters, aber auch hier wartete es wieder auf mich. Mit leiser Stimme fing es an, mir zu beichten, und ich wunderte mich, warum es immer lächelte und warum die Lippen so speichelfeucht waren. Aber dann fiel mir ein, daß er an Paralyse gestorben war, und ich fühlte, daß auch ich leicht lächelte, als wollte ich den Simonisten von seiner Sünde lösen.

      Am nächsten Morgen ging ich gleich nach dem Frühstück hinaus und beobachtete das kleine Haus in der Great Britain Street. Ein anspruchsloser Laden mit dem alles und nichts besagenden Schild: Weißwaren. Die Weißwaren bestanden hauptsächlich aus wollenen Kinderschuhen und Regenschirmen; sonst hing immer ein Schild im Fenster, auf dem stand: Hier werden Regenschirme neu überzogen. Jetzt aber war von einem Schilde nichts zu sehen, denn die Fensterläden waren zu. Mit Bändern war am Türklopfer ein Trauerbukett befestigt. Zwei arme Frauen und ein Telegrammbote lasen die Karte, die mit einer Nadel an den Flor gesteckt war. Ich trat auch näher und las:

      1. Juli 1895.

      Ehrwürden James Flynn (früher tätig an der St.-Katharinen-Kirche Meath Street), im Alter von

      65 Jahren.

      R. I. P.

      Als ich die Karte gelesen hatte, war ich überzeugt, daß er tot war, und diese Tatsache verwirrte mich. Wäre er nicht tot gewesen, wäre ich in das kleine, dunkle Zimmer hinter dem Laden gegangen und hätte ihn dort, fest in den dicken Mantel gehüllt, im Lehnstuhl neben dem Feuer sitzend gefunden. Vielleicht hätte mir meine Tante ein Paket High Toast für ihn mitgegeben, und dieses Geschenk hätte ihn vielleicht aus seinem blöden Dösen geweckt. Ich leerte immer das Paket in seine schwarze Schnupftabakdose, denn seine Hände zitterten zu sehr, als daß er dies hätte tun können, ohne die Hälfte des Schnupftabaks zu verschütten. Immer wenn er seine große, zitternde Hand an die Nase hob, rieselten kleine Staubwolken durch seine Finger herab auf die Vorderseite seines Mantels. Vielleicht kam die blaßgrüne Farbe seiner alten Priesterkleider von diesem dauernden Schnupftabakregen, denn das rote, von den Schnupftabakflecken einer Woche immer schwarze Taschentuch, mit dem er die heruntergefallenen Krümchen wegzuwischen versuchte, war ganz wirkungslos.

      Gerne wäre ich hineingegangen, ihn zu sehen, aber ich hatte nicht den Mut zu klopfen. Langsam ging ich auf der Sonnenseite der Straße weiter und las im Vorübergehen alle Theaterzettel in den Ladenfenstern. Ich fand es seltsam, daß weder ich noch der Tag traurig zu sein schien, und ich ärgerte mich sogar, als ich in mir so etwas wie ein Gefühl der Freiheit entdeckte, als wäre ich durch seinen Tod von etwas befreit worden. Das erstaunte mich sehr, denn er hatte mir doch, wie mein Onkel am Abend vorher gesagt hatte,