Frank Goyke

Mörder im Hansaviertel


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       Frank Goyke

       MÖRDER IM HANSAVIERTEL

      Inhalt

       Erstes Kapitel

       Zweites Kapitel

       Drittes Kapitel

       Viertes Kapitel

       Fünftes Kapitel

       Sechstes Kapitel

       Siebentes Kapitel

       Achtes Kapitel

       Neuntes Kapitel

       Zehntes Kapitel

       Elftes Kapitel

       Erstes Kapitel

       Mittwoch, 23. Juni

      Liselotte Hagemeister lauschte. Sie ließ das Buch, in dem sie seit einigen Tagen las, mit dem Rücken nach unten in den Schoß sinken und spitzte die Ohren. Ihr war gewesen, als hätte jemand auf dem Nachbargrundstück einen Automotor gestartet, aber sie hatte sich wieder getäuscht. Durch das gekippte Fenster drangen nur all jene Laute, die sie jeden Tag vernehmen konnte: Hin und wieder rollte ein Auto durch die im Allgemeinen sehr ruhige und wenig befahrene Schliemannstraße, doch durch das Kopfsteinpflaster waren die Rollgeräusche besonders eindringlich. Zu bestimmten Zeiten hörte sie die Stimmen von Kindern, die zur Schule gingen oder zu einer Straßenbahnhaltestelle. Oder zum Training. Oder zur Musikschule. Wohin auch immer – am Montag hatten die großen Ferien begonnen, wie man sie früher genannt hatte. Zur Schule fuhr niemand.

      Nur noch selten spielten Kinder auf der Straße. Frau Hagemeister führte dies auf die unsozialen Sozialen Medien zurück, mit denen sie selbst sparsam umging. Als immer wieder unterbrochenes Summen drangen die Geräusche von der nahen Parkstraße herein, wo der Verkehr stärker war. Die Straßenbahnen und die S-Bahn hingegen vernahm sie nur in schlaflosen Nachtstunden, wenn die meisten anderen Töne der Großstadt erstorben waren. Das waren alles Alltagsgeräusche, an die sich ihr Ohr so gewöhnt hatte, dass sie diese nicht mehr oder nur nebenbei wahrnahm. Aber es gab auch ein Geräusch, auf das sie seit Montagmorgen immer angestrengter wartete: das Starten eines Motors fast unmittelbar vor ihrem Fenster.

      Frau Hagemeister schaute zur Nostalgiependeluhr – angeblich mit Original Westminster-Klang, wie der kleine Aufdruck auf einer Metallplakette an ihrer Tür behauptete. Ihr Mann hatte sie angeschafft. Sie hatte diesen hölzernen Kasten und die messingfarbenen Pendel nie gemocht, aber als Funkuhr ging sie immer richtig. Fünf vor drei. Eigentlich trafen sich an jedem dritten Mittwochnachmittag im Monat um drei mehrere Kolleginnen, und zwar reihum bei jeder der ehemaligen Lehrerinnen, mit denen Frau Hagemeister einst zusammengearbeitet und sich auch privat angefreundet hatte. Als sie das Kränzchen vor beinahe 20 Jahren etabliert hatte – ihr Mann hatte da noch gelebt –, da waren sie in den besten Zeiten manchmal fünfzehn Personen gewesen. Es hatte nicht ausgereicht, den Esstisch auszuziehen, sondern sie hatte sich noch einen zusätzlichen Klapptisch kaufen müssen. Inzwischen waren sie nur noch zu dritt. Der Tod hatte reiche Ernte gehalten, anders konnte man es nicht sagen, aber was sollte man erwarten? Liselotte Hagemeister war seit dem 2. Mai 87 Jahre alt. Die Luft auf dem Gipfel wurde immer dünner, und eigentlich war es ein Wunder, dass sie immerhin noch drei waren. Ihre Freundinnen hatten nun aber absagen müssen, beide krankheitshalber. Felizitas konnte kaum noch gehen und rechnete damit, dass sie bald im Rollstuhl sitzen würde. Ingrid hatte sich erkältet: Sie lebte im Seniorenheim und beklagte sich schon seit Langem über die ewige Zugluft. Des Uringeruchs wegen, den die vielen inkontinenten Alten verströmten, riss das Personal immer viel zu viele Fenster auf.

      Frau Hagemeister schüttelte sich. Auch ihre Beine waren schwach, aber ansonsten ging es ihr gut. Vor allem der Geist funktionierte noch und, was ihr als exzessiver Leserin enorm wichtig war, die Augen taten ihren Dienst.

      Erstaunlicherweise war keine ihrer Freundinnen dem asiatischen Virus erlegen, das vor anderthalb Jahren seinen Siegeszug um die Welt angetreten hatte und das zu den Coronaviridae gehörte, von denen auch simple Erkältungen und grippale Infekte ausgelöst wurden; als ehemalige Lateinlehrerin bereitete es Frau Hagemeister ein gewisses Vergnügen, den lateinischen Terminus technicus zu denken. Aus China war das Virus gekommen, und schon nach den ersten Fernsehberichten über die neue Seuche hatte sie sich des Pastors erinnert, der in der Nachbarschaft gewohnt hatte. Liselotte Hagemeister war der Gegend zwischen Parkstraße, Hundertmännerstraße und Voßstraße immer treu geblieben – bis auf die ersten fünf Jahre ihrer Ehe, die sie in der Südstadt verbracht hatte, was beinahe einem Auslandsaufenthalt gleichkam. Sie musste schmunzeln. ›Auslandsaufenthalt‹, dachte sie amüsiert. Großgeworden war sie jedenfalls in der Eggersstraße um die Ecke. Ihre Eltern waren alles andere als strenge Christen gewesen – sie nannten sich selbst Feiertagsgläubige –, doch immerhin war Tochter Liselotte getauft und konfirmiert worden, beides in der Heilig-Geist-Kirche. Als dann um das Jahr 1950 die Johanniskirche im Barnstorfer Wald ihre Pforten geöffnet hatte, waren sie dort zum Gottesdienst gegangen, meistens jedoch nur zu Ostern und zu Weihnachten, wofür sie der Pfarrer ab und zu gescholten hatte. Es war der im Viertel legendäre Patter Rüh: Eigentlich hieß er Friedrich Carl Rüß, aber er laborierte an einem Artikulationsfehler und konnte den S-Laut nicht aussprechen, sodass er, abgeleitet vom plattdeutschen Wort Paster, von allen hinter seinem Rücken Patter Rüh genannt wurde. Alteingesessene wussten noch, wie er mit seinem Stock in der einen und mit seiner Geliebten an der anderen Hand durch das Viertel spaziert war, und auch seine ewigen Warnungen vor der »Gelben Gefahr« hatten jene noch im Ohr, die sich seiner erinnerten. Erst 1972 war er in Pension gegangen, exakt in jenem Jahr, als Frau Hagemeister zur Studienrätin befördert worden war, deshalb wusste sie es noch so genau. Die Gelbe Gefahr – an Viren hatte Patter Rüh kaum gedacht, eher an Panzer und Bombenflugzeuge und wohl auch an die Atombombe.

      Das gehörte zum Fluch des Alters: Man lebte zu viel in der Vergangenheit. Liselotte Hagemeister schaute auf das Buch in ihrem Schoß. »Roda Rodas Cicerone« lautete der Titel. Zufällig hatte sie es beim Abstauben des Regals im Schlafzimmer entdeckt, wo es seit Jahrzehnten ein unbemerktes Dasein gefristet hatte, denn es war bereits 1965 im Aufbau Verlag erschienen. Der österreichische Satiriker brachte sie immer wieder zum Lachen, und Lachen war schließlich gesund. Manchmal schmunzelte sie auch nur, und einiges war so banal, dass sie nicht einmal mit dem Mundwinkel zuckte. Was hatte sie gerade gelesen?

       ›Auch wenn Sie keine Stimme haben, brauchen Sie an Ihrer Zukunft als Sängerin nicht zu verzweifeln. Fester Wille siegt über Mängel des Körpers: Demosthenes stotterte, Beethoven war taub, Raffael wurde ohne Arme geboren – und gar mancher Politiker hat es trotz angebornem Schwachsinn zum Parteiführer gebracht.‹

      Frau Hagemeister schüttelte den Kopf: Politikerschelte war immer wohlfeil und kam gut an. Doch sie mochte kein Stammtischgerede und war auch das ewige Gemecker über die Politik leid. Mit Schülern hätte sie das »trotz angebornem Schwachsinn« diskutieren können: Regierte »trotz« den Dativ oder den Genitiv? Egal – die Präpositionalphrasen gingen sie nichts mehr an. Mochte regieren, wer wollte!

      Die alte Frau schlug