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Elisabeth Langgässer
Der Gang durch das Ried
Saga
Der Gang durch das RiedCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1936, 2020 Elisabeth Langgässer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726482409
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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I
im spätherbst des Jahres 1930 ging ein Mann über das verlassene französische Lager, das früher ein deutsches gewesen war und sich zwischen der hessischen Hauptstadt, umschließenden Tannen- und Birkenwäldern und dem großen Sande dahinzieht. Es nieselte langsam vom Himmel herunter, der Mann schlug den Kragen der Jacke hoch und rückte das Kappenschild noch tiefer in die Stirne. Auf den breiten Kasernenstraßen, die durch leere Barackenreihen, an Stallungen, Vorratshäusern und Kantinen vorüberführten, wuchs dichtes, grünbraunes Gras, das jeden Schritt verschluckte und den Wandernden wesenlos wie eine Traumgestalt machte, die, wenn sie auch rufen würde, von niemand gehört werden könnte. Noch vor kurzem hatten hier Feuerwerker aus Koblenz und Ludwigshafen den Übungsplatz abgesucht und die Blindgänger, Handgranaten und letzten Depots gesprengt – die Erde war damals zerstampft und der Himmel von dem Echo jener dumpfen Schläge erfüllt gewesen, die bis in das Ried hinein und noch weiterhin spürbar waren.
Jetzt aber herrschte Stille, eine blöde Taubheit gleichsam, die sich wohl noch der Töne erinnert, doch so sehr mit ihnen gesättigt ist, daß sie nichts mehr vernehmen kann. Manche Fensterscheibe war da und dort durch die Erschütterung eingefallen und starrte gezackt wie ein schwarzer Stern aus der bröckelnden Mauerfüllung; der rostigen Angel enthoben, hing eine morsche Tür schief zu der eigenen Achse; eine andere schlug unaufhörlich, von dem Zugwind angetrieben, bis zur Hälfte der Schwelle vor, wo ein üppiges Mooskissen wucherte, das sie geräuschlos abfing. Auch ein paar fetzige Wellblechbaracken standen neben den Backsteinbauten; sie waren rötlichgelb angelaufen und von der großen Versteigerung vor Wochen übriggeblieben.
Was diese Versteigerung anging, so konnte man damals glauben, in einer Stadt zu sein, die von Erdkatastrophen verschüttet gewesen und dann wieder ausgegraben und aufgebaut worden war: unter freiem Himmel stand, abgenutzt, das Inventar der Kasernen – alte Schränke, die jammervoll quietschten, verwanzte Betten und Öfen, welche glatt auseinanderfielen, ein paar Schemel mit starrenden Beinen, befleckte Bänke und Tische, deren Holz, wo es irgend anging, unzüchtig tätowiert war, nutzlose Eisenteile, die von Lumpensammlern hinausgefahren und auf halbem Weg wieder verloren wurden. Nur einige Feldbettstellen waren ungefragt hiergeblieben und jene Wellblechbaracken, die, zerrissen, als ob eine Schere sie geschlitzt und geschnitten hätte, ja, teilweise schon zusammengebrochen, in dem weiten Gelände ruhten und den Eindruck riesiger Raupen oder Fabeltiere machten, welche rasselnd niedergesunken, doch immer noch gefährlich und voll tückischer Drohung sind. Der Krieg hatte, wie ihm gemäß ist, wenn er irgendwo Abschied nimmt, seine leere Schale zurückgelassen, diese armselig rohen Kasernen, in denen er noch immer so gegenwärtig war, daß selbst die Allerärmsten sich nicht entschließen konnten, in den verlassenen Höhlen einen Unterschlupf zu suchen.
Der Mann trat dicht an die Häuser heran, welche Kreideinschrift und Zeichen ihrer früheren Bestimmung: »cuisine« und »l’infirmerie« oder Nummer und Abteilung der Truppenkörper trugen, und sah mit dem Gefühl eines vierzehnjährigen Knaben durch die verschmutzten Fenster in tote Räume hinein. Die Wände standen schweigsam um lauter Vergangenheit, trugen hier und dort einen schlecht vergipsten Haken und atmeten die Bläue der bröckelnden Leimfarbe aus. Sie waren eher klein als hoch und geräumig zu nennen und kamen doch dem Beschauer sehr groß und ferne vor – vielleicht, weil die Möbel fehlten, oder weil das Nacheinander so vieler Menschenleben, die hier eingedrungen waren, sich in ihnen gesammelt hatte. Indem er weiterging, erinnerte sich der Mann an ein seltsames Kindheitserlebnis. Seine frühverstorbene Mutter war die Frau eines Schlächters gewesen und hatte die Gewohnheit, ihn beim Austragen mitzunehmen. So waren beide zusammen in ein uraltes Haus gekommen, dessen Läden heruntergelassen und ohne Vorhänge waren. Es ging durch verschattete Korridore, ein Nußbaum nickte am Fenster, zwei blinde Messingleuchter hoben jeder fünf Finger hoch. Ein Schreibkabinett tat sich auf, danach ein dunkles Zimmer mit schweren Eichenschränken, ein kleines mit Spiegeln, ein großes mit Ölgemälden und dahinter noch mehrere, die immer seltsamer rochen, bis in dem allerletzten – –der Mann schloß beide Augen und suchte sich vorzustellen, was das letzte Zimmer enthalten hatte; doch sah er nichts als eine rötliche Woge, eine Welle von Blut, die das Gehirn überdrang. Seine Lider zitterten heftig und flatterten endlich empor: die Sonne brach schräg durch den Wolkenschiefer und erhellte mit blassem Lächeln ein graugelbes Zimmerloch, in dem zwei gespenstige Kinder wie Ratten schnell umeinanderliefen. Der Mann, mit furchtbar verändertem Ausdruck, stieß das angelehnte Fenster zurück, und während das größere Kind, ein schwarzgezopftes Mädchen, erschrokken »Vater« kreischte, schwang er sich über die Brüstung und fand sich im Raum allein. Eine Haarschleife lag am Boden. Der Mann hob sie gierig auf und zerkaute sie zwischen den Händen; dann ruckte er den Riemen des alten Tornisters hoch und ging erinnerungslos und über den Ort verwundert, an dem er sich befand, nach der offenen Türe zu, durch welche die Kinder verschwunden waren. In der Ferne stand ein Fuhrwerk mit kräftigem Gespann; ein Arbeiter lud Gerümpel auf und rief zu drei andern herüber, die etwas einzuschaufeln und zuzuschütten schienen. Als der Wanderer näher kam, sah er auch wieder das Mädchen und einen braunblonden Knaben, der sich nach schüchterner Kinder Art bei seinem Anblick verkroch, indessen die Gefährtin den Vater am Ärmel zupfte und nach dem Fremden wies.
Derselbe ging auf die Arbeiter zu, berührte den Rand des Kappenschildes und sagte still guten Tag. Die Männer grüßten zurück. Sie hielten in ihrer Beschäftigung ein und fragten woher und wohin. Nur die letzte Frage beachtend, gab der Mann die hessische Hauptstadt als nächsten Aufenthalt an. Dort müsse er noch sein Visum nach Frankreich stempeln lassen, wo er zu Hause sei und in den Pyrenäen eine kleine Weinwirtschaft habe. Erstaunten Blicken begegnend, erläuterte er spaßhaft, die guten Jahre hätten ihn bis heute zurückbehalten; er sei, seiner Sprachkenntnis wegen, bei der Reichsvermögensstelle in Dolmetscherdiensten gewesen, dann erkrankt, bei dem Auszug zurückgeblieben und jetzt erst wieder fähig, die weite Reise zu wagen. Die Leute sagten: so, so, halb ungläubig gegen den Fremden, der in dem alten Soldatenrock sehr ärmlich vor ihnen stand und mit der spitzen Nase im hageren Gesicht weit eher dem Gottseibeiuns als einem Gastwirt zu gleichen schien; halb nach alter Gewohnheit bemüht, eine höfliche Vorsicht walten zu lassen, wenn einer von Frankreich sprach.
Der Mann, ihr Mißtrauen fühlend, nahm seinen Paß hervor, entfaltete brüchiges und stark beflecktes Papier und wies auf den Namen »Aladin«, geriet in hastiges Reden, das plötzlich untermischt mit fremden Brocken war, lachte höhnisch auf und schwieg still. Die Arbeiter sahen einander an, und während einer von ihnen, der hinter dem Fremden stand, mit dem Daumenknöchel die Stirn berührte, hierauf nach rückwärts zeigte, wo der Ort lag, aus dem sie gekommen waren, beendeten die andern, ihre Handwerkszeuge zusammenwerfend, die Arbeit des Nachmittags und zogen wetterfeste, sandgraue Mäntel an. Es regnete jetzt wieder stärker, die rauhen Pferdemähnen waren dicht mit Tropfen besetzt, das Wasser klatschte und kluckerte in den braunen Blattmulden auf, erfüllte die herbstliche Luft mit verschleiertem Schwatzen und Rauschen und schoß die zerbrochenen Kandeln der Barackenmauern herunter.
»Warum grabt ihr denn diese Tröge ein, anstatt sie wegzufahren?« fragte der fremde Mann gespannt und wies auf halbverschüttete, verwaiste Tränken hin, als hinge von der Antwort die Enthüllung des Rätsels ab, das um den Ort hier webte.
»Es lohnt nicht«, versetzte einer, der mit vorgebeugten Schultern den Gußstein betrachtet hatte, und stieß mit dem Fuß darnach. »Überhaupt – was hier schon verscharrt worden ist . . .« seine Hand schlug schräg durch die nasse Gegend; er preßte den Mund zusammen.
»Ihr meint: von den Franzosen?«