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Hans Leip
Der große Fluß im Meer
Roman des Golfstroms
Saga
Für wissenschaftliche Beratung habe ich Herrn Professor Dr. Hermann Friedrich zu danken und für besondere Hinweise und Vermittlungen den Herren Captain Harry-Edgar Daeché, New York, und Kapitän Gustav Schröder, Hamburg
Die schlagader der abendländischen kultur
Wind von Westen · Eine gewagte Behauptung · Fortschritt und Unruhe · Wer ist Tlaloca? · Die Midgardschlange · Damenmeer und Roßbreiten · Die Teerjacken schweigen · Und doch hat er Ufer · Der ungeheure Zirkel · Wie weit geht die Warmwasserheizung? · Runter die Mütze, Kuddl!
Von meinem Zimmer zu Wangen auf der Höri, wo ich dieses Buch schreibe, blicke ich auf den Untersee. Grau glitzert er hinter den Uferpappeln, und drüben, über die noch bräunlichen Hügel der Schweizer Seite, streifen dünne Nebelschwaden.
Ich öffne das Fenster. Der Tag ist verhangen. Der Wind kommt westlich. Er duftet gut. Ich bilde mir ein, sein Weg über Frankreich habe ihm noch nicht allen Duft des Ozeans geraubt. Frühlingsmild ist die Luft, atlantisch feucht, leicht geheizt von der geheimnisvollen Strömung, die aus den Sonnenkesseln Westindiens gen Europa streicht.
Atem des Golfstroms! Unter seinem Hauch hat sich die Eisdecke des Sees in wenigen Tagen zurückverwandelt in das Fließende, Wellende, Plätschernde, in das Wunder des Wassers. Ist nicht Wasser das einzige jener vier Elemente der Alten, das uns zugleich in dreifacher Gestalt alltäglich zu begegnen vermag, flüssig, fest und gasförmig, der einzige unter allen organischen und anorganischen Stoffen, der kraft dieser Dreifaltigkeit überall wirkend die Welt regiert?
So, wie der Golfstrom Europa regiert.
Eine gewagte Behauptung! lächelt Tlaloca.
Gut, so sei gleich einiges angedeutet, was dem geheimnisvollen Fluß des nordatlantischen Ozeans zu verdanken ist, ihm, den selten das Auge eines Menschen richtig wahrgenommen hat und den die meisten nur vom Hörensagen kennen. Man weiß vielleicht aus der Schule, daß der Golfstrom für unser Klima wichtig ist. Wäre er nicht vorhanden, so gliche Nordeuropa etwa der Landschaft Labradors, wo ständige größere Siedlungen und eine Bodenkultur und Lebenskultur, wie wir sie kennen, nicht möglich sind.
Der Golfstrom macht sozusagen ein mildes Treibhaus aus dem atlantisch gelegenen Teil Europas, ein leicht geheiztes, gut gefeuchtetes, aber immerhin nicht ganz den sonstigen Klimagegebenheiten entsprechendes Warmbeet. Und die Strahlung seines feuchtwarmen Atems und eine gewisse Unregelmäßigkeit seiner Heizungs- und Gartenbedienung ergeben die sonderbare Reizbarkeit des Europäers, bewirken die europäische Unruhe, das „schöpferische Fieber“, die großartige wuchernde Fülle seiner Kultur. Nirgends in der Welt gibt es wie hier den geborenen Unzufriedenen, der täglich mit klimatischer Erregtheit gesäugt wird und immer bestrebt scheint, aus seiner Haut hinauszufahren. Das hat ihn zu ungewöhnlichen Leistungen befeuert und zu vielem Unfug. Das macht ihn zum Auswanderer aus allem Hergebrachten, zum Weitschweifer und ewigen Sucher.
Ohne den Hauch des Golfstroms wären wahrscheinlich schon die Frühkulturen der Jungsteinzeit mit ihren weltweit sich verbreitenden Steinkünsten nicht gewesen und nicht die Höhlenzeichnungen der Renntierjäger. Und die frühe Völkerwanderung wäre ebenso unerklärlich wie die späte, an der wir seit 1933 zu leiden haben. Und weder die Lieder der Edda noch „Hermann und Dorothea“ wären entstanden, weder die Miniaturen in den St. Gallener Mönchsschriften noch die Gemälde Rembrandts, es gäbe weder die Mystiker noch die Spiritisten, weder das Gokstadschiff noch die Hapag, weder Voltaire noch Queen Victoria, weder Paracelsus noch Bircher-Benner, weder Luther noch Rudolf Steiner, weder Kolumbus noch Piccard, weder Gutenberg noch Heisenberg, weder Karl Marx noch Karl May, weder den Hexenhammer noch den Vertrag zu Versailles, weder den Kölner Dom noch die Reichskanzlei, weder die Weltkriege noch die Unesco. Nichts oder wenig wäre vorhanden von dem Hochmaß an Leistung und Wirrsal, kaum eine Spur von der unfaßlichen Züchtungs-Überzüchtungskultur, die Europa in die Mitte der Welt gerückt hat, nichts von den brennenden Himmelsstürmern und den bohrenden Entschleierern, nichts von den Fackeln und Geißeln, Ranken und Tentakeln, die von Europa aus sich körperhaft und geistig rings um die Erde reckten.
Und ebensowenig besäße die Welt die Skyline zu Manhattan, die Hotels in Bombay, die Spitäler zu Hongkong, die Golfplätze auf Neuseeland, die Rollfelder zu Dakar, das Missionskirchlein von Kuklulu im Busch, den Künstlerklub zu New Orleans, die Eisenbahnen Argentiniens, die Funktürme Chinas, die Zyklotrone Rußlands. Und Hollywood und Tanglewood und Woodshole würden so wenig existieren (in ihren Einrichtungen) wie Weimar, Salzburg und Genf. Und so unterschiedliche Genüsse wie die Brandenburgischen Konzerte Bachs und die Fernsehprogramme wären einfach nicht vorhanden.
Nur wer wochenlang hoch im Gebirge auf einer Alm gelebt hat oder in australischer Steppe, der ahnt, was alles der Golfstrom „ausgebrütet“ und was uns auf die Dauer bitter fehlen würde. Aber alle Stichproben sind mager. Kurzum: Der Golfstrom ist zweifellos verantwortlich für die gesamte abendländische Kultur, was die Ansaugung aller morgenländischen Kultur einschließt. (Ein entferntes Echo, das lautet: verantwortlich auch für die abendländische „Unnatur“, scheint unabweisbar.)
Die schier unnatürliche Hochkultur und Technik der Neuzeit ist entschieden aufgepfropft auf eine ähnlich seegesäugte Kultur, die der Antike, die fruchtbar war durch eine ähnlich feuchtwärmliche Aufregung des Klimas und der Geister in einer Epoche, da der Golfstromatem etwas südöstlicher strich und das Mittelmeer beunruhigte, bis er herüberschwang zu den nordwesteuropäischatlantischen Küsten. Dort denn säte sich, hervor aus dem Schutt und Dung der (ohne den Golfstrom) verfallenden oder vielmehr ins Normale zurücksinkenden antiken Bildung, die grenzenlose Vielfalt der Moderne, verpflanzte sich aus dem mediterranen Binnenraum in die atlantisch offenen Gefilde zwischen Gibraltar und Spitzbergen, zwischen Irland und Smolensk, und so wuchs, mit näßlichen Wintern und feuchten Sommern, golfstromgesegnet und -belastet, das ungeheure atlantische Sein.
Das atlantische Sein, dessen Hauptschlagader der Golfstrom ist.
Laß uns nun sachte an ihn, den stillen Erreger, heranpirschen und erkunden, was bislang von seiner Gestalt und Wirkung in das Bewußtsein der Welt gelangte. Hier und da laß uns in Ereignisse und Zustände einsehen, die unmittelbar Berührung mit ihm haben und in seinen gigantischen Meereszirkel gehören. Soweit du nichts dagegen hast, Tlaloca.
Dürfte ich übrigens vorstellen: Tlaloca. Sie wird meine imaginäre Gesprächspartnerin sein. Tlaloca, die Tochter des Wind- und Regengottes Tlaloc.
Vielleicht ist sie aus der Opferschale entsprungen, die er im Schoße hält, indes er gewaltigen Blicks das Haupt zum Ozean wendet. Man sieht sein steinernes Bildnis im Museum zu Mexiko. Vormals stand es auf der geheiligten Gipfelplatte eines toltekischen Tempels. Ein paar Jahrhunderte sind inzwischen vergangen. Vieles hat sich geändert. Aber Tlaloc blickt noch immer über den Atlantik gen Nordosten, dorthin, wo Europa liegt. Seit Millionen von Jahren ist seine Tochter dahin unterwegs, Tlaloca, die Nixe des Golfstroms.
Ist nicht jeder Europäer mit Karl dem Großen verwandt innerhalb der dreißig Generationen, die seit ihm Böses und Gutes begangen haben? Um wieviel mehr ist jede Bewohnerin des golfstromgesäugten Europa mit Tlaloca eines Blutes!
Der See vorm Fenster wirft kleines Gekräusel vor sich hin; es scheint ostwärts zu wandern, dahin, wohin der Wind heute weht. Scharen schwarzer Belchen lassen sich mit der Windströmung treiben. Hin und wieder purzeln sie, den weißen Schnabel voran, unter die Oberfläche und sind eine Weile verschwunden, als seien sie Fische geworden, sie, die nicht einmal Enten sind, sondern regelrechte Hühner. So gingen die Bauern an der Küste auf See und wurden Fischer. Und begingen damit — wie die Hühner – nichts als eine Art Heimkehr. Denn aus dem Meere kommt alles, was lebt. Und kehrt wieder heim zum Meere. Das sind längere Wege als jene, die der Wind von der Normandie bis hierher zurücklegt, und längere als der Weg, den der Rhein gen See nimmt. Der Rhein, der von Konstanz her durch den Untersee fließt. Man möchte heute meinen, er flösse nach Konstanz hin, so täuschend sieht die Strömung aus. Wir sind gewohnt, solche Täuschungen hinzunehmen.
Doch durchs Glas entdecke ich einen Uferbusch, der, vom letzten