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Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Joachim Fischer
Jahrgang 1951, ist habilitierter Soziologe. Er lehrt seit 2009 als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten (Erlangen-Nürnberg, Halle-Wittenberg, Europa-Universität Via drina Frankfurt / Oder, Innsbruck) und seit 2012 als Honorarprofessor an der TU Dresden. Er ist Mitgründer und seit 2011 Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft. Von ihm sind u. a. erschienen »Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts«, Freiburg / München 2008, und (als Mitherausgeber) »Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?«, München 2010.
JOACHIM FISCHER
Wie sich das Bürgertum in Form hält
zu Klampen Essay 2012
Inhalt
Nonkonformismus Moderne bildende Kunst als Herrschaftsmedium
Rekonstruktivismus als soziale Bewegung Die revolutionäre Rückkehr der okzidentalen Stadt
Verbürgerlichung der Weltgesellschaft
Vorwort
DIE Wandlungsfähigkeit des Bürgertums überrascht. Durch das 20. Jahrhundert hindurch schien es durch die von ihm mit erzeugten Katastrophen dem Untergang geweiht – die mehrfach beschworenen Abschiede vom Bürgertum wollten nicht enden. Doch allen Untergangserwartungen zum Trotz dominiert es heute – nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1989 – die Massengesellschaft und tendenziell die Weltgesellschaft. Das Bürgertum ist ein stupor mundi der Weltgeschichte.
Nachfolgend werden Anmerkungen zum Bürgertum geboten. Ein distanziert soziologischer Blick auf diese enorm wandlungsfähige Klasse beobachtet, wie sie sich »in Form« hält. Man findet hier keine Apologie des Bürgertums, und umgekehrt werden manche die allfällige Kritik am Bürgertum vermissen. Keine Legitimation des Phänomens also, und noch nicht einmal eine Kritik im Namen seiner eigenen Normen. Interessant erscheinen vielmehr nur die Strategien, mittels deren das Bürgertum – nach seiner Kontingenzerfahrung im 20. Jahrhundert – im Spiel bleibt: zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit der modernen bildenden Kunst, im ›Rekonstruktivismus‹ der »europäischen Stadt«, in der Nobilitierung weltgesellschaftlicher Verkörperungen der Prinzipien des Bürgerlichen.
Das sind nur Proben und Fragmente. Hinter den essayistischen Zuspitzungen steht eine soziologische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, welche in gegenwartsdiagnostischer Absicht Durchblicke, Einblicke gestatten soll, die zwei alternativen Kandidaten der Gesellschaftstheorie verwehrt bleiben: der notorisch wiederaufgelegten Kapitalismustheorie und der raffinierten Systemtheorie. Erstere ist analytisch zu ökonomiefixiert und kann die irreduzible Fülle nichtökonomischer Größen systematisch nicht in den Blick bekommen, die zweite ist in ihrer These von der funktionalen Ausdifferenzierung von autonom agierenden Teilsystemen angemessen komplex, aber vom Ansatz her blind für die Akteure, das unentbehrliche Personal, das die differenten Systeme trägt – oder eben nicht.
»Bürgertum«, »Bürger / Weltbürger«, »Bürgerlichkeit«, »bürgerliche Gesellschaft« – in dieser historisch-soziologischen Semantik zwischen Klassen- und Systembegrifflichkeit, zwischen Sozialfigur und Habitus steckt ein unabgegoltenes gegenwartsanalytisches Potential – das ist die Intuition.
Bürgertum als stupor mundi
1989 ereignet sich die Epiphanie des Bürgers. Dieses Jahr steht für eine Gesellschaftsrevolution, die Soziologen – etwas verschämt – unter dem Stichwort der »Transformationsforschung« abhandeln. Dabei könnte es sich bei dem Strukturereignis von 1989 um nichts weniger als um die Geburt, die Wiedergeburt eines Sozialtypus, einer neuen Subjektformation handeln: die des »Bürgers« mit all seinen Facetten; einer Sozialfigur, die seitdem weltgesellschaftliche Prägnanz gewinnt. In den ost- und mitteleuropäischen »Bürgerbewegungen« kommt es nämlich aus einem durchaus modernen, aber dezidiert nichtbürgerlichen Gesellschaftsprojekt heraus zu einer Fremdaffirmation der inzwischen seit 1945 in Westeuropa reetablierten bürgerlichen Gesellschaft: Vor den Augen einer teils staunenden, teils erschrockenen Weltöffentlichkeit verwandeln sich die Mitglieder moderner sozialistischer Sicherheitsgesellschaften tastend, Schritt für Schritt in risikofreudige Akteure einer bürgerlichen Vergesellschaftung: im Zuge der revolutionären Herstellung des öffentlichen Raumes ihrer alten, vor sich hinbröselnden okzidentalen Städte; den Prinzipien der gewagten Assoziationsbildung einer civil society folgend; mit der Restitution des bourgeoisen Privateigentums an Grund und Boden; schließlich durch die Zulassung individuell-kreativer Welt- und Selbstentwürfe das Risiko des Bildungsbürgertums einschleusend. Ein Strukturereignis, einen neuen Typ von Revolution bezeichnet 1989, weil hier nicht traditionale und nicht feudale Gesellschaften, also nicht vormoderne, sich in moderne verwandeln (das klassische Vorzugsthema der Soziologie), sondern bereits moderne Gesellschaften sich in bürgerliche Gesellschaften transformieren. Aus modernsten Sicherheitsgesellschaften werden so moderne Risikogesellschaften. Diese revolutionäre Herstellung bürgerlicher Gesellschaften im 20. Jahrhundert – vor den Augen der Weltöffentlichkeit – hat Folgen für die bereits real verbürgerlichten Gesellschaften: Alle deutschen, europäischen und weltweiten Debatten um eine »Neue Bürgerlichkeit«1, um neue Formen des Weltbürgertums und des Kosmopolitismus (Ulrich Beck, Kwame Anthony Appiah) seit den frühen neunziger Jahren sind nur ein verstärkendes, mitunter schrilles, mitunter taumelndes Echo der Revolution von 1989. Erst im Spiegel der revolutionären Fremdaffirmation erkennen und anerkennen die faktisch bereits verbürgerlichten Gesellschaften ihre eigenen, historisch unwahrscheinlichen Strukturprinzipien. Im Stichwort der sogenannten »Verbürgerlichung« reflektiert sich ein längst existierender, aber immer von Schwundphantasien umkreister realer Sozialtypus. Über den ihm auf offener Bühne zugefallenen Status einer gegenwartsgesellschaftlichen Schlüsselfigur erschrocken, sieht er vor sich ein buntes Spektrum anderer Sozialtypen, hinter sich jedoch den Abgrund der Geschichte. Die bürgerliche Gesellschaft wird damit zur historisch anknüpfenden, sich permanent wandelnden und dennoch fortsetzenden Prägnanzgestalt der sozialen Gegenwart.
Soziologisch gesehen läuft nämlich erst seit 1989 in allen Prozeduren, in jeder Strukturierung moderner Gesellschaften eine immer präsente Doppelinformation mit: weder eine national-sozialistische Form der Vergemeinschaftung zu sein, die den weltgeschichtlich modernen Sozialtypus des bellizistischen Technikers privilegiert (man denke an Jüngers »Der Arbeiter«), noch eine vernunft-sozialistische, die die internationale Vergemeinschaftung des modernen Industriearbeiters und Industriebauern propagiert (Brechts / Eislers »Solidaritätslied«). Beides waren im 20. Jahrhundert bis 1989 realmögliche Formationen der Moderne. Das ist der schlichte Grund, warum seit 1989 der Begriff »Moderne« allein nicht mehr ausreicht, um die Gegenwartsgesellschaft zureichend zu bestimmen. »Bürgerliche Gesellschaft nach ihrer Kontingenzerfahrung«