Inga Brock

Unklare Verhältnisse


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      There are three rules for writing a novel.

      Unfortunately, no one knows what they are.

      William Somerset Maugham

      Inga Brock

      Unklare Verhältnisse

      Kurzgeschichten

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      Alle beide 7

      Grüne Briefe 10

      Das hier ist für Mark 32

      Herzklumpen 53

      Herzklumpen II 64

      Herzklumpen III 76

      Herzklumpen IV 89

      Herzklumpen V 102

      Unter den Linden 103

      Beine wie Kastanienmännchen 110

      Der Krötenkönig 122

      Praktisch 129

      Brav 134

      Was in eine Kiste passt 146

      Geld oder Sterben 159

      Dass Liebe nicht endet 178

      Als Baby fast gestorben 198

      Autark 223

      Geleit für den Doofen 227

      Unklare Verhältnisse 239

      Alle beide

      Vom Ufer aus konnte er nur einen kleinen Teil des Sees überblicken. Auf der gegenüberliegenden Seite wuchs Schilf. So viel konnte er erkennen. Linker Hand, nur ein paar Schritte entfernt, begann ein dichtes Waldstück. In die andere Richtung um den See herum lagen Kartoffel- und Rübenfelder, zumindest glaubte er das, und eine große Wiese, auf der Obstbäume standen. Es war schon sehr heiß, obwohl es noch nicht ganz Mittag war.

      Sie hielten ihn für dämlich, das war klar. Und während sein Vater zusammen mit Frau Mohrmann, die wirklich dämlich war, in Richtung Lichtung verschwand, fragte er sich, wie viele Nachmittage lang er noch so tun sollte, als sei er wirklich so beschränkt, wie sein Vater glaubte. So wenig parteiisch. So wenig integer. Er wusste, was integer bedeutete. Er hatte es nachgeschlagen.

      Er glotzte in den Himmel. Abgesehen davon, dass es ihn ärgerte, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagten und dass er nicht verhindern konnte, wie schäbig sie seine Mutter betrogen, gefielen ihm diese Ausflüge sogar. Auch wenn die Orte jedes Mal wechselten, bestand Frau Mohrmann darauf, dass sie mittags irgendwo zusammen einkehrten und „der Junge sein Eis“ bekam. Anschließend spielten sie irgendwo Minigolf oder sie machten eine Bootsfahrt. Bei schlechtem Wetter gingen sie in Heimatmuseen oder zu Ausstellungen.

      Frau Mohrmann war nicht nur dämlich, sie war auch kein bisschen hübsch. Fand er. Wenn sein Vater geschmacklose Witze erzählte, entblößte sie jedes Mal blöd kichernd ihr wulstiges Zahnfleisch, um den Zotenreißer gleich anschließend gespielt entrüstet zu tadeln und den Jungen zu fragen, ob er noch eine Tüte Erdnüsse wolle und wie er denn so in der Schule sei.

      Der Junge warf ein paar Kieselsteine ins seichte Wasser. Die Lichtungen mochte er am liebsten, zu ihnen gehörten Wälder und zu den Wäldern gehörten Hochsitze. Kam noch ein See dazu wie an diesem Tag, dann traf sich das besonders gut, dann wurde der Hochsitz zum Ausguck eines Seeräuberschiffs. Auch wenn er dazu eigentlich schon zu alt war. Sah ja keiner. Oder er spielte Discovery Channel und beobachtete Graureiher und Enten und gab dazu laut Kommentare ab. Hörte ja keiner.

      Draußen war es eigentlich immer schön. Richtig schlimm war es nur, wenn sie in öffentlichen Toiletten verschwanden, weil es regnete, und er frierend unter dem Dach einer Bushaltestelle warten musste. Oder wenn sich sein Vater während der Autofahrt nicht beherrschen konnte und Frau Mohrmann zwischen die Beine griff, immer dann, wenn er dachte, der Junge schaue aus dem Fenster oder döse vor sich hin. Irgendwann war es dem Vater wohl auch egal, was der Junge mitbekam. Manchmal überlegte er sich, ob er nicht einfach aus dem fahrenden Auto springen sollte.

      Der Junge ging den Steg entlang und spuckte ins Wasser. Der Schleimbatzen bewegte sich nicht von der Stelle. Er sah auf und beobachtete die beiden, wie sie vom Waldrand her auf ihn zukamen. Sein Vater winkte und Frau Mohrmann sah schon von Weitem verheult aus. Es war auch schneller gegangen als sonst.

      Als sie später zu zweit in die Wohnung kamen, war seine Mutter am Marmeladekochen. Sie summte vor sich hin und drückte den Jungen zur Begrüßung fest an sich, während der Vater wortlos im Wohnzimmer verschwand. Der Junge schaute seine Mutter an, so erleichtert, so glücklich, so dankbar. Er konnte mal wieder nicht fassen, dass sie noch da war und dass in der Diele kein Abschiedsbrief gelegen hatte: „Ihr könnt mich mal, alle beide!“

      Wie gut sie roch. So sehr gut.

      Grüne Briefe

      Die Oma ist verliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie wird im November fünfundachtzig Jahre alt und es steht zu befürchten, dass es kein Happy End geben wird.

      Der kleine Bäckerladen und die Metzgerei sind noch da, aber alles andere hat sich verändert. Jetzt gibt es einen Getränkemarkt, eine Tankstelle, einen Laden für Geschenkartikel, einen Pennymarkt und ein Ärztehaus, einschließlich Hörgeräteakustiker. Der Wald scheint geschrumpft zu sein und ist es tatsächlich. Stürme haben klafterweise Bäume umgeknickt und andere wie einsame Zahnstocher stehen lassen. Sie sehen aus, als warteten sie auf eine Ablösung oder irgendeine Art Wiedergutmachung. Auf den Windwiesen drängt sich ein winziges Einfamilienhaus ans nächste, architektonisches Kraut- und Rübenallerlei. Der Waschbach ist verschwunden und die kleinen Kinder, die ihn jahrzehntelang als ihr Eigentum betrachtet hatten, stapfen heute über mit Rindenmulch gepolsterte Spielplätze, die eingezäunt sind wie Gefangenenlager.

      Jedenfalls: Bis zum Waschbach ist die Oma nur noch sehr selten gegangen, auch schon vor zwanzig Jahren. Der Weg war zu weit und der Boden zu uneben.

      Auf einer alten Wanderkarte hatte der Opa einen roten Kreis um das Symbol einer uralten Eiche gemalt, die mitten auf den Windwiesen stand. „Naturbesonderheit“ steht in der Legende.

      „Gibt es die denn noch?“, fragt die Oma.

      „Ja“, sagt die Enkeltochter und lächelt. Ohne mit der Wimper zu zucken.

      Die Oma, die sie vor sich sieht, wenn sie an „die Oma“ denkt, stammt aus den späten Siebzigern. Sie trägt braune Kleider und glockige Blumenröcke, baumelnde Granatohrringe und mehrere lange Goldketten, die über ihrem großen Busen sanft hin- und herbaumeln. Ihre Haare sind weißblond, ganz fein und toupiert, die hellen, schmalen Augenbrauen mit einem schwarzen Stift übermalt. Auf den gelbstichigen Fotos aus dieser Zeit, die alle bei festlichen Anlässen aufgenommen wurden, reicht sie Platten mit Kroketten und Dosenerbsen weiter. Oder sie prostet dem Fotografen zu oder sie schaut den Opa tadelnd an. Auf einem raucht sie Zigarre. Entspannt zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen.

      Die Oma von heute wäre sehr gerne die Oma von damals. Vermutlich. Immer, wenn die Enkeltochter sie besucht, erschrickt sie ein bisschen, sobald die Oma die Tür aufmacht. Sie ist so klein geworden und krumm, die Haut ganz runzlig und die Hände wie kleine Klauen. Nur die Augen sind unverändert. Blau.

      Sie stellt Schweinsöhrchen auf den Tisch.

      „Die magst du doch am liebsten.“ Das Missverständnis ist schon so alt, dass es nicht mehr zu klären ist.

      Außerdem gibt es Salzstangen, Paprikachips, belgische Waffeln, Weingummi und eine Familienpackung Lakritzkonfekt.

      „Kommt noch jemand?“ Der alte Spruch.

      „Nur du.“ Ihr glückliches Lächeln. So stolz und verschwörerisch.

      „Den Rest nimmst du nachher einfach mit.“

      Sie geht zum Kühlschrank und kommt mit einer gekühlten Flasche Sekt zurück.

      „Machst du sie für uns auf?“ Sie setzt sich der Enkeltochter gegenüber und schiebt ihr ein Glas zu. Es steht auf einem runden