Doris Lott

Glyzinienduft und Hausmusik


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      Doris Lott

      Glyzinienduft

       und Hausmusik

      Karlsruher Häuser erzählen

      Doris Lott, 1940 in Karlsruhe geboren, studierte Deutsch und Fran­zösisch und lebte zwei Jahre in Frankreich. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin an einer Real­schule arbeitet sie seit vielen Jahren als freie Journalis­tin und schrieb ­zahlreiche Beiträge und Feuilletons für den Rundfunk und Zeitungen. So entstand auch ihr Frankreichbuch „Mein blau-weiß-rotes Herz“, dass über ihre Begegnungen mit Franzosen berichtet. Bekannt wurde sie auch als Herausgeberin von mehre­ren Karlsruhe-Büchern wie den beiden Bänden „Vom Glück in Karlsruhe zu leben“, durch ihr Kinderbuch „Anton, der Eisbär“, die „Karlsruher Brunnen­geschichten“ sowie durch „Hopfenduft und Butterbrezel.

      Die Geschichte eines Hauses

      ist die Geschichte seiner Bewohner.

      Die Geschichte seiner Bewohner

      ist die Geschichte der Zeit,

      in welcher sie lebten und leben.

      Die Geschichte der Zeiten

       ist die Geschichte der Menschheit.

      Wilhelm Raabe

      Weinbrennerstraße 42

      Glyzinienduft und Hausmusik

      Wie Familie Knorre Traditionen bewahrt

      Ganz früh im Jahr fangen sie an zu blühen und verwandeln die Jugendstilfassade des Hauses Nr. 42 in der Weinbrennerstraße in hängende Gärten aus blühenden Glyziniendolden, die sich vom Erdgeschoss über die Beletage bis hinauf unters Dach ranken. Dann ist für Elisabeth Knorre der Augenblick gekommen, wo sie sich mit ihrer Lieblingslektüre für ein paar Stunden von ihrer Alltagswelt verabschiedet.

      Mitten hinein setzt sie sich in das duftende Blütenmeer auf ihrem sonnenüberfluteten Balkon im ersten Obergeschoss. Sie schaltet ihr Handy ab, überhört das Läuten des Telefons und das Klingeln an der blauen Jugendstilhaustür.

      Wenn die Glyzinien blühen, beginnt im Hause Knorre der Frühling. Das sind die wenigen Stunden im Jahr, in denen Elisabeth Knorre, die immer für andere da ist, sich ganz alleine gehört. „Dieser Duft“, sagt sie „und diese Blütenpracht.“ Von den ehemals vier Häusern mit Glyzinienbewuchs in der Nachbarschaft gibt es nur noch dieses eine Haus, wo in jedem Frühling das blaue Wunder zum Erblühen kommt.

      Im Vorgarten in der Weinbrennerstraße Nr. 42 duften Rosen und Lavendelsträucher und hinter den Jugendstilfenstern mit den Rundbogen aus dem Jahr 1906 verbirgt sich eine längst versunken geglaubte Welt mit kostbaren Jugendstil-Fayencen aus der Karlsruher Majolika, Gründerzeitmöbeln und Gemälden des Hans-Thoma-Schülers Arthur Riedel. Jedes Möbelstück erzählt eine Geschichte. Die alte Kaminuhr zum Beispiel, die der Hausherr fein säuberlich zerlegt auf dem Dachboden fand und die ihn fast das Leben gekostet hätte, gehört dazu.

      Joachim Knorre schmunzelt: „Neben der Uhr lag so ein flaschenartiges Gebilde, das ich achtlos mit dem Fuß zur Seite schob und das sich als nicht entschärfte Granate aus dem Zweiten­ Weltkrieg entpuppte.“ Irgendwo in einer Ecke des Speichers entdeckte der Hausherr, der 1982 mit seiner Familie­ in das Haus einzog, ein zerschlissenes Sofa, vier Stühle und zwei dazu passende Sessel. Verstaubte alte Möbel, in einem so desolaten Zustand, dass sie in einem „normalen Haushalt“ längst auf dem Sperrmüll gelandet wären. Ein hoffnungsloser Fall selbst für einen erfahrenen Polsterer und außerdem unbezahlbar.

      Nicht so für die findigen Knorres, die einen pensionierten Theaterpolsterer ausfindig machten, der sich gleich an Ort und Stelle auf dem Dachboden eine Werkstatt einrichtete und das alte Sitzmöbel zu neuer Pracht und Herrlichkeit aufmöbelte. Heute ziert es den Musiksalon der Knorres und ist bei Hauskonzerten die beliebteste Sitzecke.

      Das gastfreundliche, immer offene Haus ist ein Treffpunkt für Musikfreunde und Künstler, aber auch für Menschen, die Geborgenheit, Herzenswärme und praktische Hilfe suchen. „Ein Haus aus lauter Liebe und der Ort in Karlsruhe mit der wohl ältesten Hausmusiktradition“, sagt ein Gast. Seit über 85 Jahren gibt es hier in der Weinbrennerstraße 42 die legendären Hausmusikabende.

      Joachim Knorre lernte während seiner Studienzeit an der pädagogischen Hochschule die Stimmbildnerin Anne-Lise Haarbeck kennen, die seine Ausbildung übernahm und vierzig Jahre lang sangen Elisabeth und Joachim gemeinsam unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor Professor ­Haarbeck im Chor der Christuskirche.

      Es ist als ob Frau Musica persönlich die Patenschaft über das Glyzinienhaus übernommen und dafür gesorgt hat, dass Musik und Gesang in diesem Hause nie verstummen.

      „Oh, is it a museum?“, fragte einmal mit erstaunten Augen ein Austauschschüler aus Namibia, als er zum ersten Mal die Wohnung betrat. Von Museum kann keine Rede sein, in einem so gastfreundlichen Haus, in dem man das Gefühl hat, dass die Zeit stehen geblieben ist. Ein Hauch von Biedermeier und Gründerzeit, Beethoven, Wagner und Schumann weht durch die Räume mit den Musikerbüsten, dem kostbaren Steinway-Flügel und den Spitzendecken auf dem runden Tischchen in der Fensternische mit dem hölzernen Podest aus Großmutters Zeiten. Hier trinkt der Gast seinen Kaffee aus ungarischen Porzellantassen, denn Elisabeth Knorres Wurzeln sind in Ungarn, der Heimat ihrer Eltern.

      Schon Joachim Knorres Mutter Irmgard, geborene ­Breger, kam als Kind in dieses Haus und musizierte gemeinsam mit anderen Schülerinnen des Munz’schen Konservatoriums bei den Vorspielnachmittagen der Klavierlehrerin Irma Jüngert. Wo heute der Steinway-Flügel steht und seit 20 Jahren die Liederabende mit Joachim Knorre, Tenor, und Pfarrer Reinhard Buschbeck am Flügel stattfinden, wurde schon Knorres Mutter unterrichtet. Jahrzehnte später erhielt an der gleichen Stelle auch der neunjährige Joachim seinen ersten Unterricht von der erfahrenen Klavierpädagogin.

      Tradition wird großgeschrieben im Hause Knorre. Zur Geschichte des Hauses gehört auch die „graue Eminenz“ Christa Reischig. Von 1961 bis zu ihrem Tod 2013 lebte sie im zweiten Obergeschoss des Hauses. Die vier Knorre-Kinder liebten ihre „Adoptiv-Oma“, die nach dem Tod ihres Mannes mit offenen Armen in die Familie aufgenommen wurde. Eine Frau mit Charakter und Prinzipien, die auch die Kinder verehrten.

      Sie war die disziplinierte „Preußin“ im Haus, bei der alle Fäden zusammenliefen, die Gott und die Welt kannte und Menschen zusammenführte, und deren Mann dafür sorgte, dass die Hausmusikabende plötzlich auch zu einem „kulinarischen Event“ wurden. „Ihr sorgt für die Musik, ich sorge für das Buffet und die Moselweine“, pflegte Herr Reischig

       zu sagen. „Nur so kann ich eure musikalischen Abende ertragen.“ – Heute bewirtet Elisabeth Knorre nach einem Haus­musik­abend 20 Gäste an der stilvoll gedeckten Tafel. Köstliche Gerichte in gut badischer Tradition mit Meerrettich und Tafelspitz oder mit Sauerkraut und Schäufele und den sorgfältig darauf abgestimmten Weinen aus der Region.

      „Meine Klavierlehrerin Irma Jüngert war eine ausgezeichnete Pädagogin, die bei aller Konsequenz die Freude ihrer Schüler an der Musik gefördert hat“, erinnert sich der Hausherr. Ihre letzten Jahre verbrachte Irma Jüngert im nahegelegenen Berckholtzstift, behielt aber immer noch ihre Wohnung in der Weinbrennerstraße und veranstaltete dort ihre Kammermusiknachmittage. Eines Tages, ich hatte sie gerade mit dem Rollstuhl in den dritten Stock gebracht, sagte sie: „Machen wir uns nichts vor, Joachim, ich kann nie mehr ganz in meine alte Wohnung zurück. Wollt ihr nicht bei mir einziehen?“ So kam es, dass Joachim und Elisabeth Knorre in die Wohnung der Irma Jüngert einzogen. „Eine Wohnung, zwei Erwachsene, zwei Kinder, zwei Flügel und zwei Klaviere“, lacht Joachim Knorre. „Unser Steinway-Flügel und der Blüthner von Frau Jüngert.“

      Fortuna und Frau Musica hatten beschlossen, dass dies wohl die beste Lösung sei, um die künstlerische Tradition im musenfreundlichen Haus fortzuführen. Dem Wohlwollen der Musen ist es wohl auch zu verdanken, dass alle vier Knorre-Kinder die Musik lieben: Tochter Dorothea, die Literatur und Musikwissenschaft studiert, spielt Klavier und Sohn Max