konnte es sein, dass dieses Weib ihn immer wieder derart klar und deutlich eines Besseren belehrte? Er presste die Lippen zusammen. Ein dumpfes Gefühl fühlte er in sich, eine Form von Trauer, so wie sie ihn manchmal heimsuchte, wenn er die grenzenlose Liebe Ibias zu ihrer beider Sohn beobachtete. So etwas hatte er und sein Bruder Hans nie erfahren – seine Eltern hatten außer Arbeit nichts im Sinn gehabt – und er zweifelte, ob er jemals so viel Liebe schenken konnte, wie es Ibia vermochte. Ibia schien seine Enttäuschung zu spüren. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und strich ihm sanft durchs Kräuselhaar. Lange fiel kein Wort.
»Matthias, soll ich dir zum Einschlafen noch etwas Gutes tun? Ich meine etwas ganz Gutes?«
Er nickte. Ibia verschwand unter der Decke. Nach einer Weile kam sie wieder hervor – ohne Erfolg. Sie wischte sich mit dem Laken über den Mund, küsste Matthias auf die Stirn und drehte sich wortlos zur Seite. Nach wenigen Minuten hörte er ihr Schnarchen – ein weiterer Grund, weshalb er bis weit in die Nacht kein Auge zubekam.
Bereits um viertel vor acht stand Matthias am nächsten Morgen im Sitzungssaal des Rathauses und strich sich die Kleidung zurecht. Er war allein, ein Bediensteter hatte ihn eingelassen und geheißen zu warten, die Herrschaften geruhten jederzeit einzutreffen. Er ging zu einem der Fenster, legte die Hände auf das Sims und sah hinaus gegen die aufgehende Sonne. Es hatte aufgeklart, seit Tagen zeigte sie sich zum ersten Mal wieder über der Jakobervorstadt. Ihre Strahlen fielen noch matt und in einem flachen Winkel auf ihn und den großen Eichentisch hinter seinem Rücken, auf dem vor noch leeren Stühlen dreizehn venezianische Gläser standen und an dem in den nächsten Stunden wohl Augsburger Stadt- und Kunstgeschichte geschrieben würde. Er hatte seine Referenzmappe mit den Abbildungen der Weberhausfresken und weiteren Entwürfen auf eine der drei Sitztruhen gelegt, er wollte nicht, dass man seine Nervosität an den Abdrücken seiner Schwitzhände auf dem hellen Leder entlarven konnte. Um sich abzulenken, besah er sich die Konterfeis der Stadtältesten – allesamt Kupferstiche, die meisten von den Gebrüdern Kilian – und suchte vergebens nach handwerklichen Mängeln, als die hohen Herrschaften nacheinander eintraten. Zuerst schritten die beiden Stadtpfleger Marx Welser und Johann Jacob Remboldt zur Tür herein. Sie trugen obligat den pelzbesetzten Talar, Amtskette und Mühlsteinkragen. Es folgten die Geheimräte Jeronimus Walter, Conrad Peuttinger, Bernhard Rehlinger, David Welser und Hans Fugger der Jüngere. Deren Talare zierten zwar ebenfalls Pelzbesätze, doch fielen diese wie auch die Mühlsteinkragen und Amtsketten nicht ganz so üppig aus. Danach betraten Constantin Imhoff, Wolfgang Paller und Bartholomäus Welser als Ädile den Saal. Sie waren am wenigsten schmuck gekleidet, allein die Farbe schwarz vom Scheitel bis zur Sohle und nur ein einfacher weißer Kragen zierten ihren Staat. Zuletzt erschienen Elias und, zu Matthias’ Überraschung, Anton Garb, der seines Wissens kein reichsstädtisches Amt bekleidete. In letzter Zeit sah Matthias ihn öfter mit Marx Welser zusammen. Das hatte Gründe, nur welche?
Es wurde nach Sitzordnung Platz genommen, Remboldt und Marx Welser saßen an der Stirnseite, die Längsseiten wurden rechts und links nach Reihenfolge des Eintretens besetzt. Garb begrüßte Matthias mit Handschlag und setzte sich neben ihn, beide saßen Elias gegenüber. Elias nickte Matthias zu und Matthias erkannte deutlich dessen Erstaunen über sein Hiersein, wenngleich es Matthias schien, als suche Elias es zu verbergen.
Zwei Bedienstete brachten Wein und Wasser herbei. Es wurde zugeprostet und gemeinsam getrunken. Remboldt stand auf und eröffnete die Sitzung. Nach Verlesung der Anwesenden erzählte er in ausschweifenden Worten über das stete Voranschreiten Augsburgs trotz seiner schwierigen Geschichte.
Als er nach vielen Sätzen mit seiner Einleitung zufrieden schien, nahm er sein Glas und prostete erneut allen zu.
»Bei der letzten Sitzung vor drei Tagen«, sprach er, »hat der Rat den einhelligen Entschluss verabschiedet, das alte Rathaus noch im Sommer abzureißen und ein neues zu bauen.«
Remboldts Worte wurden von heftigem Knöchelklopfen auf den Tisch begleitet. Remboldt rollte ein Pergament aus, zeigte es in die Runde und kommentierte die darauf befindliche Zeichnung. Es war ein Entwurf von Elias. Er zeigte den neuen Perlachturm. Recht ansehnlich, doch nicht wirklich etwas Besonderes. Man habe in punkto Glockenproblem und dessen Lösung schon alles im Geheimen Rat ausführlich diskutiert, fuhr Remboldt fort, weswegen er hier nur kurz darauf eingehen werde. Er verlor ein paar Sätze über die Aufstockung, für die gänzlich der Stadtwerkmeister verantwortlich zeichne, um zum eigentlichen Thema der Sitzung zu gelangen: Man habe sich hier und heute getroffen, um über den Modus operandi bei der Entwurfserstellung des neuen Augsburger Rathauses übereinzukommen. Damit meine er nicht irgendeinen Allerweltsentwurf, sondern einen wahrhaft großen, ja einen geradezu heroischen. Das neue Rathaus müsse das alte nicht nur übertreffen – was im Übrigen bei dem alten Kasten, so ehrbar er sei, keine Kunst wäre – sondern alle Rathäuser im ganzen Heiligen Römischen Reich! Die Mienen der Anwesenden spiegelten selten gesehenen Ernst. Remboldt trank einen Schluck und fuhr fort. Mit dem allseits bekannten und hochgeschätzten Stadtwerkmeister Elias Holl und dem Freskanten Matthias Kager, einem Kenner der welschen Kunst, wie er vor Jahren mit seinen Loggiamodellen eindrucksvoll unter Beweis gestellt habe, verfüge die Stadt über zwei herausragende Sachverständige, die wie niemand anders sonst befähigt seien, einen solchen Entwurf zu kreieren. Matthias merkte auf. Er sollte tatsächlich das neue Rathaus entwerfen. Es kribbelte in ihm. Die Worte Remboldts hallten nach. Er versuchte, den Überschwang der Gefühle zu zügeln. Garb reichte ihm die Hand herüber und sprach ihm flüsternd seine Gratulation aus. Matthias antwortete nur halbherzig, er sah hinüber zu Elias. Der schaute ihn gar nicht an, sondern stierte zu Remboldt. Selten hatte Matthias ihn mit solch starrem Blick gesehen.
Remboldt erhob sich.
»Werte Herren Architekten. Der Rat ersucht Euch, die ersten Entwürfe bis zum achtundzwanzigsten Tag dieses Monats einzureichen. Wir gehen davon aus, dass die alten Entwürfe gut aufbewahrt wurden. Die räumlichen Gegebenheiten des Perlachplatzes haben sich nicht geändert, es kann also auf die gleichen Maßvorgaben zurückgegriffen werden.«
Nach Remboldt sprach Welser noch einige erläuternde Worte. Er betonte, dass sehr wohl und unverkennbar welsche Manier in die Entwürfe einfließen sollte, man aber auf ein eigenes Augsburger Stadtgesicht zu achten habe. Er wünsche sich eine fruchtende Kooperation zwischen den beiden Architekten und dem Rat. Mit Gottes Willen sei nicht nur der Stadt und seinen Vätern, sondern auch allen seinen Bürgern und künftigen Gästen ein Rathaus beschieden, wie es kein zweites im Reich anzutreffen sei.
Man erhob noch einmal gemeinsam die Gläser und Remboldt schloss die Sitzung. Die Ratsmitglieder gratulierten einander und wünschten den beiden Architekten viel Inspiration und gute Ideen.
Elias selbst blieb wortlos und konnte sich nur ein Nicken abringen. Auch als Matthias und er sich die Hand reichten, schwieg er.
Bis auf Elias und Remboldt verließen alle den Saal. Unten vor dem Rathaus löste sich die Gruppe auf, die Mitglieder verließen einzeln oder zu mehreren den Platz. Es blieben nur mehr Marx Welser, Anton Garb und Matthias.
Marx Welser wandte sich Matthias zu. »Na, Meister Kager, damit habt Ihr nicht gerechnet, hm? Ihr seht, Eure Leistung wird nicht nur wahrgenommen, sie wird auch honoriert. Wir sind sehr auf Eure Entwürfe gespannt.«
Garb blinzelte gegen das Sonnenlicht, das über dem Rathausdach hervorschien. »Endlich Sonne!« Er wandte sich Matthias zu: »Und, Kager, was Euren Auftrag angeht … wir Handelsleute sagen schon immer: Konkurrenz belebt das Geschäft. Ist schon recht, wenn nicht immer nur dem Holl alles zugeschanzt wird.«
Inzwischen erschienen Remboldt und Elias vor der Tür. Remboldt sah in die kleine Runde, verabschiedete sich mit erhobener Hand und ging in Richtung Weinmarkt. Elias stand allein und sah auf den Boden. Matthias ging auf ihn zu.
»Ich soll Dir und Rosina schöne Grüße von Ibia ausrichten. Sie fragt, wie es ihr geht«, log er. Es war allerdings nur eine halbe Lüge – die Frage hatte Ibia ja gestern tatsächlich gestellt, nur der Gruß war von ihm vorgeschoben. Erst nach wenigen Augenblicken antwortete Elias gedämpft.
»Wir suchen ein Kindermädchen.«
Die Antwort war unzulänglich, doch Matthias wusste, jetzt war nicht Zeit und Ort, darauf einzugehen. Garb und Marx Welser kamen dazu.