Axel Gora

Die Versuchung des Elias Holl


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      Remboldt zeigte mehr Mitgefühl als ich erwartet hatte, er überraschte mich geradezu: »Eigentlich geht es mich nichts an, aber ich halte die Ohren für Euch offen, Holl.«

      Sein Schulterklopfen mochte ein Zeichen der Ermunterung sein, war aber wohl eher als Signal zum Themawechsel gemeint. Er setzte die Fingerkuppen beider Hände gegeneinander, spreizte die Finger, führte sie zur Nasenspitze und hob an.

      »Holl, Ihr wisst, wie gut es mittlerweile um unsere schöne Stadt bestellt ist. Sie hat in ihrer langen Geschichte viel Schlechtes erfahren: Blattern, Franzosenkrankheit und die Pest, Zauberei und Hexenwahn, Neid und Missgunst bis zum Krieg, Hungersnöte, Feuersbrünste, Hochwasser. Über den schwelenden Konfessionszwist möchte ich gar nicht reden. Aber: Augsburg ist dabei nicht zugrunde gegangen! Im Gegenteil, stark ist unsere Stadt geworden. Mächtig sogar! Sie birgt bald an die fünfzigtausend Menschen. In den letzten hundert Jahren hat sich – trotz aller Widrigkeiten – unsere Bürgerzahl verdoppelt. Nach Köln und Nürnberg ist Augsburg die drittgrößte Stadt des Heiligen Römischen Reiches. Und sie hat das Zeug dazu, die größte zu werden! In unseren Warenstraßen vom Roten Tor über Spital-, Bäcker- und Heilig Grabgasse bis zu unseren zahlreichen Märkten reißt der Verkehr nicht ab. Mit der Macht der Fugger und der Welser hat Augsburg seinen wirtschaftlichen Siegeszug bis in die Neue Welt angetreten. Und wir, Holl, ziehen mit! Ich und Ihr: Wir werden dafür sorgen, dass unsere Freie Reichsstadt ein Gesicht zeigt, das nicht nur ihren Status ehrt, sondern ihresgleichen sucht! Mit den Brunnen haben wir einen Anfang gemacht, doch sie sind nur ein Teil im großen Ganzen. Wichtiger sind die Bauten. Das Gymnasium bei Sankt Anna und die Bibliothek mit dem astronomischen Studierzimmer lassen sich nicht nur für die Gelehrten gut an. Mit dem Städtischen Kaufhaus, dem Becken- und dem Siegelhaus sind Euch große Würfe geglückt, die Ihr mit der Stadtmetzg und dem Zeughaus noch übertroffen habt. Und ich bin mir gewiss, der Neue Bau wird ebenfalls ein gelungenes Werk!«

      Remboldt war mir stets geneigt und ich wusste, dass er meine Arbeit schätzte, doch so viel Lorbeer unter vier Augen hatte er mir noch nie aufs Haupt gesetzt. Er tat einen kräftigen Schluck aus dem Krug, schob den leeren Teller zur Seite und breitete die Arme aus wie der Pfarrer auf der Kanzel.

      »Holl! Die Zeit ist gekommen für unser heroisches Projekt! Ihr wisst, was ich meine.« Remboldt sah mich erwartungsvoll an.

      Ich zögerte. »Das neue Rathaus?«

      »So ist es. Die Zeit ist reif! Die Stadtkasse ist mit vierhunderttausend Gulden immer noch reichlich gefüllt, dank unsrer rigorosen Spar- und Steuerpolitik. Für den Rathausbau haben wir eigene Rücklagen geschaffen; einen Teil davon verdanken wir der Ablehnung von Kagers und Heintz’ Loggiaentwürfen, gegen die Ihr seinerzeit Gott sei Dank auch gestimmt habt.«

      »Die Loggiaentwürfe waren welsche Manier erster Güte, nur die beiden Herren Maler sind in ihrem Überschwang damit weit übers Ziel hinausgeschossen.«

      »Ein paar Träumer im Rat wollen bis heute eine Loggia auf dem Perlachplatz sehen. Wie stellen die sich das vor … ein offener Säulenbau, tz … Bei unseren Wintern … Der sollte dann zum Repräsentieren taugen und gegenüber stünde das eigentliche Rathaus als heruntergekommener Verwaltungsbau, notdürftig renoviert. Was ist denn das für eine Politik, frage ich Euch? Und was die welsche Manier angeht, diese in aller Ehren, Holl, und ohne sie scheint es nicht zu gehen, wie ich mich nicht nur von Euch schon des Öfteren belehren ließ. Trotzdem sage ich, wir brauchen ein eigenes Bild für den Perlachplatz und keine Theaterkulisse, die Rom oder Venedig nachäfft.«

      »In jeder Kunst lässt man sich von Vorgängern inspirieren. Und das Welschland ist dafür nun mal die erste Inspirationsquelle.«

      »Inspiration ist eine Sache, Holl, kopieren eine andere. Wir bauen keine Werke nach. Wir schaffen Eigenes!«

      »Na gut, werter Stadtpfleger, wie lautet Euer Plan?«

      »Euren ersten Vorschlag, nur die Fassade des alten Rathauses zu renovieren und die Innenräume neu aufzuteilen, hatten wir aus guten Gründen seinerzeit schon komplett verworfen. Der zweite Vorschlag war mir schon besser eingegangen, ein Neubau, bei dem Kaisererker, Wanduhr und Glockenturm erhalten blieben.«

      »Ergo?«

      »Das alte Rathaus gehört abgerissen, werter Remboldt, und ein neues her! Ein imposantes, eines, das Augsburgs Stand in der Welt Ehre macht, wo selbst gekrönte Häupter achtungsvoll staunen! So eines bau ich Euch: wohlproportioniert, größer und schöner als das vorige!«

      »Ich weiß, dass Ihr das könnt. Und so eines will auch ich, wie ich mich Euch wohl unmissverständlich erklärte. Aber was ist mit dem alten Pferdefuß? Der Rathausturm mag ›dürftig‹ sein, er ist dennoch der ehrenvolle Hort der Ratsglocke! Und diese ist wie kein zweites akustisches Insignium unserer weltlichen Macht! Die Ratsglocke ist die wichtigste, wichtiger noch als die Sturmglocke im Perlachturm und die Glocken der umliegenden Kirchen. Seit Jahrhunderten stehen die Menschen mit ihrem Schlag auf, richten sich bei den Arbeits- und Brotzeiten nach ihr und gehen mit ihr zu Bett. Die Ratsglocke ist für uns alle Ankündiger von weltlicher Freud wie Leid – kein großes urbanes Ereignis ohne deren Läuten! Keine Stadt kann ohne sie sein.«

      Remboldt zog die Stirn in Falten. Das tat er immer, wenn er um eine Lösung rang, sich ihm aber keine zu bieten schien.

      »Was, Remboldt, wenn ich einen Ort fände, an dem die Ratsglocke noch besser präsent ist als jetzt?«

      »Die Glocke wiegt mächtige fünfundvierzig Zentner, so viel hatte zumindest die städtische Heuwaage angezeigt; dazu kommt noch das eiserne Schlagwerk. Wo wollt Ihr einen geeigneten Platz für dieses Monstrum finden?«

      »Lasst das meine Sorge sein. Ich will nur eines wissen: Wenn es mir gelingt …?«

      »Ich wiederhole mich: Die Zeit ist reif! Löst das Glockenproblem, Holl … und ein neues Rathaus wird gebaut!«

      »Hand drauf?«

      »Hand drauf!«

      Ich hielt ihm den ausgestreckten Arm entgegen. Remboldt schlug ein und zuckte unter meinem starken Zugriff; nach den ganzen Jahren endlich die Gelegenheit für den Bau eines neuen Rathauses zu bekommen, durchströmte mich dermaßen mit der Kraft der Freude, dass ich an mich halten musste, ihn nicht geradewegs