Else Ury

Nesthäkchen und ihre Enkel


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      Else Ury

      Nesthäkchen und ihre Enkel

      Nesthäkchen

       Erzählung für junge Mädchen

      Saga

       Nesthäkchen und ihre Enkel

      Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

      Coverbild/Illustration: Shutterstock

      Copyright © 1924, 2021 SAGA Egmont

      Alle Rechte vorbehalten

      ISBN: 9788726883589

      1. E-Book-Ausgabe

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

      Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

      www.sagaegmont.com

      Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

      1. Kapitel. Im Tropenlande.

      Vor dem französischen Collège, der Mädchenschule zu Sao Paulo, hielten die Autos. Es war eine stattliche Reihe, eins hinter dem andern, die ganze mit wilden Feigenbäumen bestandene Straße hinab. Die Zöglinge des französischen Collège entstammten alle den ersten, reichsten Familien der brasilianischen Stadt. Sie waren nicht gewöhnt, zu Fuß den Schulweg zurückzulegen. Es war auch wirklich zu heiß dazu. Selbst die Chauffeure, alle Farbige, Neger und Mulatten in grellbunter Kleidung, die sonst ziemlich unempfindlich gegen die glühende Tropensonne waren, suchten heute den dürftigen Schatten, den die Bäume boten, auf. Ein etwa vierzehnjähriger Negerjunge kletterte, unbekümmert um die sengenden Sonnenstrahlen, auf einen Feigenbaum, schwang sich geschickt wie ein Affe von Ast zu Ast und saß nun, grinsend die weißen, starken Zähne zeigend, hoch oben in der verstaubten Blätterkrone.

      »Nun, Homer, kannst du sehen, ob unsere jungen Damen bald kommen werden?« fragte ein älterer Mulatte.

      Der mit »Homer« angeredete Junge schüttelte den Kopf mit dem schwarzen Wollhaar.

      »Ich sehe nicht Donna Anita, ich sehe nicht Donna Marietta. Nur kleine, ganz kleine Fräulein – so klein.« Er zeigte etwa die Größe eines Daumens. Homer konnte von seinem Auslug gerade in die unterste Klasse der Abcschützen hineinspähen. Er versuchte sein Heil auf einem anderen Baume, auf einem dritten und vierten, aber die Gesuchten wollten sich nicht zeigen.

      Die hatten ihre erste Schulklasse nach der anderen Seite des Schulhauses, der Schattenseite, gelegen. Aber auch dort war es kaum erträglich. Die Hitze brütete in dem Raume und machte Lehrer und Schülerinnen unfrisch und unlustig für jede geistige Anstrengung. Nur gut, daß heute, am 1. Dezember, die Hitzeferien begannen. Zwei Monate frei – wenn man daran dachte, empfand man den Druck der Tropenglut, der sich wie ein eiserner Reif um die Mädchenköpfe legte, kaum noch.

      Es waren etwa zwanzig junge Mädchen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren in der ersten Klasse des französischen Collège versammelt. Allen Nationen angehörend. Schwarze, braune und vereinzelt auch blonde Köpfe waren über Hefte und Bücher geneigt. Aber die dunkle Farbe des Haares, der Augen und des Hauttons herrschte bei weitem vor.

      » Eh bien – Mesdemoiselles, wir werden jetzt die Leçon schließen.« Monsieur sprach französisch. Alle Unterrichtsfächer im Collège wurden in französischer Sprache erteilt. »Vergessen Sie in den Ferien nicht das Gelernte, repetieren Sie fleißig – Mademoiselle Anita, für Sie ist das ebenso gesagt, wie für die anderen Desmoiselles.« Monsieur zog die Augenbrauen hoch und sah mißbilligend zu einer Ecke hin, in der man weder von ihm, noch von seiner Rede Notiz zu nehmen schien.

      Die mit »Mademoiselle Anita« Angeredete, ein großes, schönes Mädchen, bildete den Mittelpunkt des Privatzirkels, der bereits beim Ausmalen der bevorstehenden Sommerfreuden war. Dort wurde die halblaute Unterhaltung in portugiesischer Sprache geführt.

      »Morgen schon geht es auf unsere Fazenda hinaus. Mama will keinen Tag länger hier in Sao Paulo schmoren. In Ribeirao Preto ist es doch etwas luftiger als in der Stadt. Papa hat eine Überraschung für uns. Er will sie uns aber nicht verraten. Erst auf der Fazenda bekommen wir sie zu sehen. Ich kann die Zeit gar nicht erwarten. Was, meinst du, wird es sein, Marietta? Das neue Reitpferd, das ich mir so brennend wünsche, oder am Ende den entzückenden Brillantanhänger, den ich neulich im Schaufenster bewunderte, oder – – –«

      »Monsieur ist ärgerlich, Anita, er sieht immerfort her«, flüsterte ihr Marietta mahnend zu.

      »Pah – viel Vergnügen! Da hat er was Schönes zu sehen. Monsieur hat ja die Leçon bereits beendet«, lachte Anita unbekümmert die ängstliche Zwillingsschwester aus.

      Marietta schaute beklommen den Lehrer an. Der hatte seine Bücher schweigend geschlossen. Er war es gewöhnt, daß die jungen Damen hier in Amerika recht viel eigenen Willen zeigten und denselben nicht immer den Wünschen des Lehrers unterordneten. Das war in Europa doch anders gewesen. Als er noch in Paris unterrichtete – – – Monsieur begann sich mit seinem Tüchlein Kühlung zuzufächeln. Nicht nur wegen der glühenden Tropentemperatur, sondern der jungen Dinger wegen, die ihm mit ihrem stark ausgeprägten Selbstbewußtsein den Kopf warm machten. Allen voran Anita Tavares. Sie war zweifellos die schönste von allen mit ihrem tiefschwarzen, weichen Haargelock und den dazu in merkwürdigem Gegensatz stehenden veilchenblauen Augen. Sprühend vor Lebendigkeit – ach, nur allzu lebendig. Die Schwester Marietta war aus einem ganz anderen Holze geschnitzt. Bescheiden und rücksichtsvoll, versuchte sie die Übergriffe ihrer Zwillingsschwester stets zu dämmen. Sie war der erklärte Liebling aller Lehrer. Ein Rätsel schien es, daß die beiden Zwillinge waren. Man konnte sich kaum zwei verschiedenere Menschen denken. Schon äußerlich. Die kleine zierliche Marietta reichte der kräftigen Anita kaum bis zur Schulter. Unter dem goldbraunen Kraushaar sah ein schmales, zartes Gesichtchen mit großen, schwarzen Augen in die Welt. Träumerisch und sehnsuchtsvoll schauten diese Augen. Sie schienen irgend etwas in weiter Ferne zu suchen. Anitas Auge dagegen war strahlend, kühn, beherrschend, der Spiegel ihrer rasch wechselnden Empfindungen. In dem Kreise der Altersgenossinnen war Anita Tavares tonangebend. Das lag freilich nicht nur in ihrer Wesensart begründet – ihr Vater, Milton Tavares, war der Kaffeekönig von Brasilien, der reichste und angesehenste Mann in Sao Paulo und weit darüber hinaus. Das Fräulein Tochter war sich dessen durchaus bewußt, und diese Erkenntnis kam in allem, was Anita dachte und tat, zum Ausdruck. Die weichere, sanftere Zwillingsschwester wurde vollkommen von ihr beherrscht. Und doch – oft, wenn kein anderer, nicht einmal die Mutter, Einfluß auf Anitas ungezügelte Heftigkeit oder auf ihren Eigensinn hatte, vermochte Marietta sie durch ein bittendes Wort umzustimmen. Denn die beiden Schwestern liebten sich innig. Sie waren unzertrennlich. Marietta sah voller Bewunderung zu der blühenden, temperamentvollen Anita, die jeden gleich für sich einzunehmen wußte, auf. Und diese hing mit der ganzen Stärke ihres heißblütigen Temperamentes an der um vier Stunden Jüngeren. Sie fühlte sich für Marietta verantwortlich, sie bemutterte sie und sorgte dafür, daß diese in ihrer Bescheidenheit den Platz unter den Schulkameradinnen einnahm, der ihr, als einer Tavares, zukam.

      Arm in Arm traten die beiden Schwestern aus dem Schulgebäude auf die sonnenblendende Straße hinaus.

      »Flink, komm, Jetta – Elvira, mach zu, rasch, eilt euch, daß Antonia sich nicht wieder wie ein Schatten an unsere Fersen heftet«, raunte Anita halblaut der Schwester und der Freundin zu, sie eiligst vorwärtsziehend.

      »Antonia ist bereits hinter uns«, flüsterte Elvira, zurückspähend. »Sie will gewiß wieder mit uns im Auto zusammen nach Hause fahren.«

      »Warum wollen wir sie denn nicht mitnehmen? Es ist doch noch Platz im Auto«, wandte Marietta ein.

      »Sie ist Halbblut, ihre Großmutter war eine Mulattin. Die Tavares zeigen sich nicht mit ihr zusammen öffentlich im Auto.« Anitas ganzer Hochmut kam in diesen wenigen Worten zum Ausdruck.

      »Ich