Christoph Türcke

Fundamentalismus – maskierter Nihilismus


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      Christoph Türcke

      Fundamentalismus –

       maskierter Nihilismus

      Erste Auflage 2003

      © 2003 zu Klampen Verlag · Springe

      1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

      www.zuklampen.de · [email protected]

      Satz: thielen VERLAGSBÜRO · Hannover

      Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten · Hamburg

      Gesamtherstellung: FVA · Fulda

      ISBN 9783866743328

       Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

      Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

       detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

      Inhalt

       Cover

       Titel

       Impressum

       Vorwort

       1. The Fundamentals

       2. Kleine Genealogie des Begründens

       3. Ästhetischer Fundamentalismus

       4. Weicher Fundamentalismus

       5. Zionismus

       6. Hollywoodismus

       7. Kehrreim des Fundamentalismus

       Abbildungshinweis

       Weitere Bücher

       Fußnoten

      Die Twin Towers waren nicht nur eine praktische Unterbringungsmöglichkeit für viele Leute auf wenig Raum, sondern auch ein hoch aufragendes Symbol. Darin sollte anschaulich werden, wo die globalen Fäden zusammenlaufen. Von Anfang an war es als Weltattraktion gemeint: ebenso für das internationale Kapital wie für die Touristenströme aus aller Herren Länder. Aber auch die Herzen der Amerikaner sollte es höher schlagen lassen, auf schnörkellose Weise all das verkörpern, was die USA groß gemacht hat: den freien, gleichberechtigten, durch faire Regeln gezügelten Wettstreit der körperlichen und geistigen Kräfte, der Produkte, Erfindungen, Interessen, Überzeugungen, Ideen. Die Twin Towers standen da wie die wahren Interpreten der demokratischen Freiheit. Waren sie nicht die body guards der Freiheitsstatue, die sich in ihrem mächtigen Schatten wie ein Zuckerpüppchen ausnahm und nach ihrer glorreichen Obhut geradezu zu verlangen schien?

      Gewiss, nicht alle mochten die body guards. Strahlten sie doch für diejenigen, die beim Wettstreit der Kräfte auf der Strecke geblieben waren oder den »freien Welthandel« lediglich als eine obszöne, alles entweihende Weltmacht hemmungslosen Schacherns, aber nicht als Nährboden menschlicher Würde erlebten, eine unmissverständliche Botschaft aus: Ihr seid die Verlierer; ihr gehört nicht dazu. Weltattraktion war die doppelte New Yorker Siegessäule von Anfang an auch in dem Sinne, dass sie weltweit Hass auf sich zog. Und wer sich nicht am gehassten Objekt selbst austoben kann, entschädigt sich gewöhnlich damit, dass er sich wenigstens ausmalt, wie es wäre, wenn er es zerstörte. So gehörte zu den psychologischen Gestehungskosten der Twin Towers auch ein Wust von mehr oder weniger heftigen Wünschen, Träumen, Halluzinationen ihres Zusammenstürzens – halb Kinderspiel, halb Wut im Herzen. Um ihnen ein ästhetisches Ventil zu geben, bedurfte es keines Übermaßes an Phantasie. Ein Griff ins Bild- und Dramaturgiearsenal von Hollywood genügte. Independence Day, der Film, der einen Großangriff aufs Pentagon durchspielt, war seit fünf Jahren auf dem Markt, als der Angriff wirklich stattfand. Die Fotomontage der brennenden Twin Towers, die die kalifornische Musikgruppe The Coup für das Cover ihres neuen Albums PartyMusic vorgesehen hatte, lag im Juni 2001 bereits vor. Das Album erschien im Oktober – mit anderem Cover. Der Clou war der Spot einer Hamburger Werbeagentur. »Man sah da ein stilbewusstes junges Paar in einem Straßencafé vor Hochhauskulisse Kaffee und Rotwein trinken, als plötzlich der Tisch zu zittern beginnt, Lärm anschwillt und zum Entsetzen der Umstehenden ein Airbus durch den Wolkenkratzer bricht. Die Pointe ist, dass er nicht nur das Hochhaus zerfetzt, sondern auch das an ihm befestigte Plakat mit der Service-Nummer 11880, für das der Spot Werbung machen wollte. […] Seine Fernsehpremiere erlebte der Spot am 9. September 2001. Zwei Tage später wurde er aus dem Programm genommen.«1 Unsinn also, dass am 11. September ein unvorstellbares Verbrechen geschah. Die vielfältigen Vorstellungen davon waren längst in Filmbildern geronnen.

      Dass diese Bilder grauenhafte Realität wurden, und zwar so, dass die Weltöffentlichkeit daran teilhaben konnte, als säße sie vor einem Hollywood-Spektakel – dazu musste etwas anderes wirksam werden als Phantasie: ein eiserner, lang trainierter Wille zum Martyrium. Der allerdings war in der westlichen Welt kaum mehr vorstellbar. Wer ist dort noch von den Grundsätzen, zu denen er sich bekennt, so zuinnerst erfüllt, dass er bereit wäre, sein Leben dafür zu lassen? Die Attentäter vom 11. September hatten solche Bereitschaft. Man mag noch so betonen, dass sie ihr eigenes islamisches Credo missverstanden und sich derart pathologisch darauf versteiften, dass ein ganz gemeines Verbrechen daraus hervorging – sie haben im Namen Allahs ein ungeheures Zeichen gesetzt, dem sie ihr ganzes Leben weihten. Dafür werden sie in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens als Märtyrer verehrt, im Westen als fundamentalistische Terroristen gescholten.

      Fundamentalisten – wie spricht man mit denen als aufgeklärter Mensch? Erzählt man ihnen etwas von Religionsfreiheit, Toleranz, Demokratie, also von Werten, die besagen, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, dass man die Überzeugungen anderer auch dann zu dulden hat, wenn man sie als pervers empfindet, dass die Mehrheit darüber entscheidet, was rechtens ist – und dass dies alles die Würde des Menschen ausmachen soll? Das ist vergebene Liebesmüh’ bei Leuten wie Mohammed Atta, der eine jahrelange Ingenieursausbildung in der verhassten westlichen Welt auf sich nahm und eigens einen Pilotenschein machte, um schließlich ein Flugzeug ins World Trade Center zu steuern. Es prallt ebenso an den Geistlichen und Lehrern ab, die in Palästinenserlagern Jugendliche auf Selbstmordattentate vorbereiten. Diskussion über die eigenen religiösen Grundsätze? Das ist würdeloses Palaver für sie. Was einem heilig ist, darüber diskutiert man nicht. Und so lautstark der aufgeklärte Westler diese Haltung als verbohrt von sich weisen mag, einen Stich versetzt sie ihm doch. Sie lässt ihn spüren, dass Diskussion nicht an sich gut ist, sondern allenfalls ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose