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Felix Leibrock
LUTHERS
KREUZFAHRT
Roman
Michael Imhof Verlag
Für Helene Leibrock,
die starb, als dieses Buch entstand
© 2012
Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG
Stettiner Straße 25
D-36100 Petersberg
Tel. 0661/9628286; Fax 0661/63686
Gestaltung und Reproduktion: Michael Imhof Verlag
Umschlagfoto: © Karl-Heinz Liebisch/pixelio
ISBN Epub 978-3-7319-0096-2
Das Wesen der Religion ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.
Friedrich Schleiermacher (1799)
Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche.
Alfred Loisy (1902)
Liebe Lehrer! Ich wünsche mir ein neues Fach in der Schule: Emotionalität.
Dieter Bohlen (2008)
I
Die Quote grandios. After-Show bis in die Puppen. Viel Veuve Clicquot. In der Hotelsuite alleine. Schlafen, schlafen. Vielleicht träumen. Warm Duschen, zwanzig Minuten. Brunch, mit Pressegespräch. Jetzt endlich nach Hause.
Er scrollte durch das Telefonverzeichnis der Freisprechanlage, wählte, es läutete an.
„Hallo, Vögelchen, ich hätte ja jetzt Zeit.“
Leicht erregter Atem, keine Antwort.
„Hallo, huhu.“ Er pfiff wie eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. „Wollen wir uns nicht ein bisschen den Abend verschönern?“
Bad Wiessee, das Ortsschild. Rechter Hand starrte das stählerne Spielcasino fremd und leer auf den See.
„Na komm schon, Vögelchen! Nimm dir ein Taxi! Das zahlt dir der Didi! Wir wollen mal sehen, was so an schönen Dingen zwischen Mann und Frau möglich ist! Lust?“
Er lachte leicht zotig, wartete die Antwort ab und drückte das Gespräch weg. Vögelchen war überredet, der Abend gerettet. Sie studierte Germanistik in München, mehr zum Zeitvertreib. Wie er sie kennengelernt hatte? Na, wie das in seinem Gewerbe halt so ablief. Als Praktikantin hatte sie in den Proben von Einer ist der Doofste weibliche Promis gespielt. Die waren als Gäste in seine Show eingeladen. Dann die After-Show-Party. Sie neben ihm, ihr schmachtender Augenaufschlag. Leichte Berührungen, ihr Ellenbogen an seinem, oh, ihr Parfum, ein Kribbeln. Champagner, er prostete ihr zu, sie mit einer kaum merklichen, aber eindeutigen Lippenbewegung. Bewunderndes Nicken bei jedem seiner Worte, leichte Beute.
Jetzt wird sie sich noch ein bisschen stylen, die hellblonden Locken mit ihren Spitzen vielleicht nach außen föhnen oder frech nach oben stecken, einen heißen, knappen Lederrock anziehen. Unwillkürlich leckte er sich mit der Zunge die Lippen und blickte zufrieden auf den See zu seiner Linken. Er bekam sie alle! Jedenfalls alle diese jungen Dinger, die davon träumten, ein Star zu werden. Das verschaffte ihm ein tiefes Gefühl von, ja, Befriedigung. So, wie es ältere Jäger empfinden, die ihre Abschussquote halten, obwohl die Arthritis den Aufstieg zum Hochsitz in eine anhaltende Qual verwandelt. Klar, er nahm jetzt auch diese ovalen blauen Pillen, die seine Manneskraft unterstützten. Aber nur zur Sicherheit. Man will sich doch keine Blöße geben! Er summte I did it my way, Frank Sinatra auf BR3.
For what is a man, what has he got? Jetzt sang er laut. Ein Rentner in seinem Vorgarten schüttelte den Kopf über die Inbrunst, die ihm entgegenschallte. Es klingelte. Das Display zeigte „Chantal“ an, die junge französische Dolmetscherin, die in seiner Show einmal als Vertretung simultan übersetzt hatte. Seit der ersten gemeinsamen Nacht in einem Berliner Hotel hing sie wie eine Klette an ihm. So charmant sie sich gab, so erquickend die Stunden mit ihr jedes Mal waren, heute hatte er einfach einen anderen Tagesplan. Kurz überlegte er, den Anruf einfach zu ignorieren. Bei Chantal, der hartnäckigen? Das war sinnlos. Die versuchte es den ganzen Abend, unerbittlich. Außerdem SMS, Mail und, das war die größte Gefahr, sie fuhr womöglich einfach mit ihrem kleinen Peugeot vor seinem Haus vor. Unseligerweise hatte er sie ein Mal, – es sollte ja nur eine absolute Ausnahme sein, ach wie blind er damals war, von einigen Gläschen Genever umnebelt – also, er hatte sie ein Mal für ein Wochenende mit in sein Tegernseer Haus genommen. Natascha? Die war damals mit Starcouturier Angelo Sabatoni zu seiner Prêt-à-porter-Show im Ritz-Carlton in New York. Sturmfreie Bude also, gewissermaßen. Doch Chantal, die kündigte seitdem Überraschungsbesuche an. Nur weil er erzählt hatte, er lebe zurzeit monogam. War doch nur eine kleine Lüge, um sie abzuschleppen. Denn sie war, für seine Verhältnisse, zunächst erstaunlich abweisend. Ein Spiel! Wecken des Eroberers. Französin durch und durch. Mit dem Haus wollte er sie beeindrucken. Es gab so viele schöne Hotels. Warum nur hatte er sie nicht mit einer Suite im Bayerischen Hof überwältigt! Stattdessen sie mit nach Hause genommen! Wie ein Anfänger! Und das passierte ihm, der manchmal fünf Frauen gleichzeitig mühelos jonglierte. Aber selbst dem erfahrensten Piloten unterlaufen Fehler.
„Mäuschen, hallo“, begrüßte er sie mit leidendem Unterton.
„Was iste denne los, mein, ööö, Liebster?“
Ihr französischer Akzent törnte ihn an. Wie jedes Mal. Aber jetzt musste er die Nummer durchziehen.
„Ach nichts, Mäuschen!“, hustete er.
„Schatze, mit dire stimmte etwas nichte. Sages mir!“
Er wartete ein bisschen, das erhöhte die Glaubwürdigkeit.
„Schatze, du fährst doch Auto. Wo biste du? Solle iche soforte zu dir, ööö, kommen? – Allo?“
Noch drei, vier Sekunden Warten, dann brach es aus ihm heraus. Die Stimme tränengetränkt:
„Ach, nichts, Mäuschen, es ist nur, ach, weißt du, ich habe dir doch von meiner letzten Untersuchung beim Arzt erzählt, dieser dunkle Fleck auf der Lunge. Jetzt habe ich erfahren, dass es Lungenkrebs sein könnte.“
Er hustete kräftig. Chantal schwieg, betroffen, um Worte ringend. Dann stammelte sie:
„Aber Schatze, ich komme soforte zu dir. Du brauchst jemanden an deiner Seite. Ich wille dir jetzt elfen in dieser schwierigen Zeite. Iche pack mir ein paar Sachen ein und in einer Stunde, iche bine bei dir!“
„Nein, Mäuschen, nein, nein. Ich bin doch auf dem Weg zu einem Arzt in Frankfurt. Habe den Tipp in der Klinik bekommen. Vielleicht fliege ich morgen sogar noch zu einem anderen Spezialisten in die USA.“
„Dann kann ich diche jetzt nichte sehen? – Aber dann komme ich morgen zum Flugaafen. Wenigstens verabschieden wille iche diche!“
„Mäuschen“, hustete Didi, leidend, aber bestimmt, „das ist nicht die erste Krise in meinem Leben. In solchen Situationen kann mir niemand, hörst du, NIEMAND helfen. Ich habe das schon immer mit mir alleine ausgemacht. Glaub mir, du hilfst mir am meisten, wenn du mich ganz alleine mit meinem Kummer lässt. Zwei, drei Wochen, dann melde ich mich wieder bei dir. Das verspreche ich dir. Versprichst du mir, bis dahin ganz tapfer zu sein und mich nicht anzurufen und ganz dolle die Daumen zu drücken, dass alles gut geht?“
„Ja“, hauchte sie nach einer Weile des Schweigens ins Telefon und weinte verzweifelt, „ja, iche warte aufe Nachrichte von dire, meine Didi-Schatze, ich denke Tage und Nachte an dich. Iche küsse diche. Umoa, umoa, umoa.“
Die Sonne stand auf halber Höhe über dem Wallberg. Der See schimmerte golden. Mit Schwung nahm er die aufwärtsführenden Kurven zum Freihaus. Der Wald öffnete sich zu einer Wiese hin, sein vor fünf Jahren im alpenländischen Bauernstil errichtetes Haus mit dem noch nicht nachgedunkelten Holz von Mondfichten erhob sich mächtig und strahlend über der Hangwiese.