Tilman Allert

Der Mund ist aufgegangen


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      Tilman Allert

       Der Mund ist aufgegangen

      Vom Geschmack der Kindheit

      Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie in Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt. Als Gastdozent lehrt er in Berlin, Tiflis und Eriwan. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen (u. a. für die »Frankfurter Allgemeine«, »Neue Zürcher«, »Die Welt«). Zu seinen bekanntesten Buchveröffentlichungen zählen »Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste« (2005) und »Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge« (2015).

       für Hans

      Inhalt

       Cover

       Titel

       Der Autor

       Widmung

       Vom Geschmack der Kindheit

       Süßer Schmerz

       Himbeerbonbons

       Der Liebesapfel

       Nappo

       Verborgene Kräfte

       Walnüsse

       Vivil

       Kaugummi

       Eigene Wege

       Salmiakpastillen

       Sauerampfer

       Karamell

       Not und Pein

       Lebertran

       Forelle blau

       Das Kamille-Dampfbad

       Im Rausch des Glücks

       Süßkirschen

       Eis

       Götterspeise

       Übergänge

       Milch

       Tabak

       Die Hostie

       Impressum

      In diesem Buch wird dem Mund das Primat eingeräumt. Er gehört zu den ersten Instanzen, die die Welt der Erscheinungen erschließen. Tastend und schmeckend lässt er sich auf ihre Verführungen ein. Die Liebe zum Draußen, sie entsteht in der Höhle des Mundes: eine Erkundungsstation in Gaumen und Rachen. Die Lippen und die Zunge, später die Zähne, assistieren den frühen Abenteuern der Einverleibung. Der Mund eröffnet Duft und Geschmack einen Raum, er erfährt Mut wie Vorsicht, Schönes und irritierend Verwunderliches und das alles in einer Lebensphase, in der das Ich von seinem Vermögen und Verlangen noch gar nichts weiß – bis auf die gefühlte Zuversicht, dass es im Draußen etwas zu entdecken gibt, das wie eine Erweiterung des Drinnen daherkommt. Das orale Gedächtnis bewahrt die Erinnerung an eine Zeit, als das Kosten Empfindungen auslöste, lange vor jeder sortierenden Erkenntnis – Momente, in denen sich der Spürsinn des Leibes in der »Wissenschaft des Konkreten« übte.

      Das Spektrum der hier zusammengestellten kuriosen und wie zufällig wirkenden Anlässe gilt Erlebnissen und apriorischen Schlussfolgerungen, die ins Vergessen abgesunken und doch nie ganz verschwunden sind. Wir sprechen Dimensionen des erkennenden Lebens an, die zum Erfahrungsschatz der frühen Kindheit zählen, über die sich der große Schleier der Gewohnheit gelegt hat und die darauf warten, als »unwillentliche Erinnerungen«, wie Marcel Proust sie genannt hat, wiedergefunden zu werden. In der Madeleine-Episode heißt es: »Geruch und Geschmack werden noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles Übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen«.

      Wenngleich den hier zu Klassikern geadelten Gaumenfreuden der Status von Akteuren zugeschrieben scheint, sind wir es doch, die von ihnen ergriffen werden; sie liefern den Stoff für eine unaufhaltsame Tendenz des Leibes, das Erkennen zu erweitern. Nicht enzyklopädisch, sondern subjektiv und exemplarisch haben wir Dinge und Sensationen ausgewählt, deren Geschmack den Erfahrungsraum gegenwärtig machen, dem sie einst entstammten. Die Natur, in rohem oder bearbeitetem Zustand, gibt die Perspektive vor, initiiert in ihrer sensorischen Attraktion ein Weltverstehen und damit ein Selbstverstehen, von der Wahrnehmung angelockt, vom haptischen Erschließen, mit dem Mund in Fahrt gebracht und geeignet, sich bis zu einem flüchtig einbrechenden »Weißtdunoch?« zurückzuziehen. Entstanden ist eine Hommage an die frühen Wonnen der Oralität, die Wonnen nur in dem Maße haben werden können, in dem sie sich dem Irritierenden nicht verschlossen und in mühsamem oder auch lustvollem Streiten mit dem Ungenießbaren einen Platz im Empfinden erobert haben.

      Im Geschmack der Kindheit schlummern die Vorboten der Urteilskraft. Wer unserem Vorhaben intellektuell Pate gestanden hat, ist unschwer zu erkennen: Mit den Werken Jean Piagets und Sigmund Freuds liegen die geistigen Fundamente einer Rekonstruktion des frühen menschlichen Vermögens vor, wie sie nie wieder derart subtil niedergeschrieben wurde, ergänzt um die Reflexionen Maurice Merleau-Pontys, der die Leiberfahrung als eine affektiv wahrheitsgemäße Objektivation des Daseins verstanden hat. Ihren Forschungen verdanken wir die Einsicht, dass sich die sensomotorische Aktivität und das Einverleiben als eine unerschöpfliche Quelle reichhaltiger Eingebungen, origineller Schlüsse und Sinnstrukturen verstehen lässt. Die Formen der Welterschließung, die Kindern in der Spannung von Rohem und Gekochtem, Tierischem und Pflanzlichem, Festem und Weichem, Heißem und Kaltem als geschmackliche Wunder oder Schrecken begegnen, repräsentieren alles andere als eine vorrationale Verirrung des rationalen Denkens. Sie spiegeln Gedanken aus einer magischen Zeit, die einer Logik gehorchen, wie sie Claude Lévi-Strauss in seinen Arbeiten