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Carsten Verhein
BÄRENFANG
Eine Erzählung
über das Schicksal von „Wolfskindern“ im Memelland
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2013
Bibliografische Information durch die Deutsche
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Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Kartenausschnitt Memelland:
Stielers Handatlas, Gotha 1905
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
4. Der selbsternannte Gutsherr
11. Mutter als Krankenschwester bei den Sowjets
Vorwort
Der Titel „Bärenfang“ – die Bezeichnung für einen typisch ostpreußischen Honigschnaps – soll nicht die Geschichte dieses Getränks beschreiben, viel mehr begleitet dieser „Honigsaft“ oft lebensentscheidend die handelnden Personen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei Brüder im Alter von acht und zwölf Jahren, die am Ende des Zweiten Weltkrieges im Memelland von ihren Eltern getrennt wurden und auf sich allein gestellt waren. So erging es in dieser Zeit unzähligen Kindern in Ostpreußen, die zu aller Ironie und Tragik von Litauern und Russen „Wolfskinder“ genannt wurden. Diesen Begriff würde man unweigerlich mit der Gründung Roms in Verbindung bringen, als man Romulus und Remus bei einer Wölfin fand. Niemand würde Wolfskinder da vermuten, wo dieser Begriff entstanden ist und trotzdem hat man sie als Kinder von Wölfen bezeichnet.
Welche Tragik liegt in dieser Namensgebung, konnten doch diese Kinder zuletzt für das, was ihre Eltern oder andere im Namen des „Führers“ begangen hatten oder begangen haben sollen. Die, die diesen Kindern den Namen gaben, sind Menschen aus Ländern, die von Nazideutschland zuvor überfallen wurden und die in ihrer Verbitterung über das Ertragene so empfanden.
Versuchen wir uns zurückzuversetzen in die Jahre 1944/45 in diese Provinz im damaligen Deutschen Reich. Der Zweite Weltkrieg hat seit Stalingrad und der Normandie-Landung eine Wende genommen. Mehr und mehr beginnt die deutsche Bevölkerung an den Naziparolen zu zweifeln. Der Kriegsgegner nähert sich den Grenzen des Deutschen Reiches. Ostpreußen und das Memelland werden zuerst zum Kriegsschauplatz auf heimischem Boden, bevor sich die Fronten nur noch in Deutschland bewegen. Das Grenzland an der Memel hatte über siebenhundert Jahre eine unveränderte, stabile Grenze, bis der Erste aber vor allem der Zweite Weltkrieg Tod und Zerstörung und letzten Endes den Verlust dieser Gebiete mit sich brachten. Aufgebote des Volkssturms, rekrutiert aus Alten und der Hitlerjugend, verstärkt mit wenigen Frontsoldaten zu sogenannten Volksgrenadierdivisionen, sollen den Gegner aufhalten. Der an Selbstmord grenzende Erlass des Gauleiters Koch, wonach der Zivilbevölkerung die Flucht bis zuletzt verboten wurde, führte dazu, dass fliehende Menschen mit ihren Trecks orientierungslos zwischen die Fronten gerieten. Ostpreußen und das Memelland wurden von der Roten Armee eingeschlossen. Letzte Fluchtwege blieben über die Kurische und Frische Nehrung oder von dort mit dem Schiff in Richtung Westen. Obwohl über 2,2 Millionen Flüchtlinge auf dem Seeweg in Richtung Westen transportiert wurden, kamen fast alle Maßnahmen zu spät.
In dieser katastrophalen Situation machten sich weder die Nazis, noch die Sieger große Gedanken über das Los der Schwächsten, der Kinder, der Alten und Kranken. Vereinzelt fanden Kinder Schutz beim Sieger, das war jedoch die Ausnahme und nicht der Regelfall. Trotzdem oder gerade deshalb, soll hier unter anderem von so einer Geschichte berichtet werden, die sicherlich nicht den Regelfall darstellt. Gefühle wie Mitleid und Hilfsbereitschaft gegenüber der Zivilbevölkerung waren auf den Kriegsschauplätzen eine seltene Ausnahme und trotzdem gab es neben unzähligen Gräueltaten auch Beispiele, dass Soldaten Essen an hungernde Kinder des „Feindes“ verteilten oder Sanitäterinnen ihnen medizinische Hilfe zukommen ließen.
Der Autor möchte sich mit dieser Erzählung gegen klischeehaftes Denken wenden, wie es vor allem durch die Propaganda beider Seiten verbreitet wurde. In Einzelfällen beschreibt das Leben immer wieder andere, spezielle Begebenheiten.
Den Kindern, die sich durch diesen harten Weg ins Leben kämpfen mussten, sei diese Erzählung gewidmet.
1. Unser Leben im Memelland
Den Sommer 1944 erlebte ich als Zwölfjähriger mit meinem achtjährigen Bruder Frank in Krettingen, früher Crottingen, im nördlichen Memelland, ohne wesentliche Kriegseinwirkungen, obwohl die Front keine zweihundert Kilometer entfernt war.
Diese Kleinstadt lag unmittelbar an der deutsch-russischen oder litauischen Grenze. Jenseits der Grenze gab es das russische Crottingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus Krettingen das litauische Kretinga.
Während der Eroberung Polens und solange es beim Überfall auf die Sowjetunion vorwärts ging lagen wir abseits der großen militärischen Vorgänge. Abgesehen von wenigen Einschränkungen verlief unser Leben wie in tiefsten Friedenszeiten.
Das sollte sich aber bald ändern!
Vater