Neffen, wieso er beinahe ein Jahr als spurlos verschwunden galt.
»Damals, 1821, geschahen in Transsylvanien unheimliche Morde an jungen Frauen. Die rumänische Polizei stand dem machtlos gegenüber. Der Tod kam in der tiefsten Dunkelheit und hinterließ Spuren der Verwüstung und Trauer. Die Mädchen verschwanden nachts, manche fand man, viele nicht. Diejenigen, die man gefunden hatte, wirkten meist verstört und verwirrt. Sie schienen nicht mehr von dieser Welt zu sein, sondern fern der Realität. Sie alle wiesen die gleichen Verletzungen auf: zwei Bisse am Hals oder am Handgelenk. Jemand hatte ihnen offenkundig das Blut ausgesaugt und nur so viel übrig gelassen, dass die Frauen überlebten. Die rumänischen Ärzte waren ratlos und brachten die Opfer in den städtischen Irrenanstalten unter. Der König Rumäniens bat kurzerhand türkische und englische Wissenschaftler und Mediziner um Hilfe. Und so geschah es, dass ich eingeladen wurde. Ich war zweiunddreißig jener Zeit und bereits ein erfolgreicher Wissenschaftler, einer der besten im Osmanischen Reich und ein enger Freund des Sultans. Eines Tages bestellte er mich zu sich in den Topkapi Palast und erteilte mir den Befehl, den Fall der aufgefundenen, verstörten Mädchen, die allesamt die gleichen Bisswunden am Hals trugen, aufzuklären. Neben mir trafen am 14. Dezember drei weitere Wissenschaftler, zwei Ärzte sowie eine spezielle Leibgarde des Sultans mit dem Schiff über das Kaspische Meer in Bukarest ein. Die Angelegenheit sollte kein Aufsehen erregen, weshalb wir uns mit den Engländern im BukarVilk – einem Bauernhotel, das außerhalb der Stadt lag – trafen. Wir diskutierten die ganze Nacht und kamen zu keinem Ergebnis. Wir stellten uns vor, welchen Kummer dieses Land zu erwarten hätte.
Einer der Engländer namens Van Helsing sprang plötzlich auf und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.
›Ich kenne das Grauen! Ich war vor sechs Jahren schon einmal hier wegen der gleichen Geschichte. Allerdings in Gerogan im Süden Rumäniens‹, rief er sichtlich aufgebracht. Seine Hand und seine Stimme zitterten gleichermaßen und die Angst blitzte in seinen Augen auf. ›Er ist halb Mensch, halb Tier. Er kann fliegen, hat scharfe Zähne und bewegt sich flinker als der Schatten. Mit bloßer Hand hat er all meine Leute umgebracht, indem er ihre Körper mit seinen scharfen Zähnen durchbohrte. Er schien überall gleichzeitig zu sein, und nachdem er den Tod gebracht hatte, flog er davon. Er ließ mich am Leben, damit ich der Nachwelt von ihm, dessen Angesicht ich niemals gewahr wurde, berichte.‹
Ich und die anderen belächelten Van Helsing, der in unseren Augen Schwachsinn erzählte.
›Ihr werdet noch sehen, wartet ab!‹, schnaufte er wütend.
Van Helsing, damals ein vierzigjähriger, ernsthafter, stämmiger Wissenschaftler, Arzt und Theologe mit grimmigen Gesichtszügen und schulterlangen weißen Haaren, entstammte einer wohlhabenden Familie aus Yorkshire, England und ursprünglich war er ein angesiedelter Holländer. Er sprach sechs Sprachen fließend, darunter auch türkisch. Er lehrte an der Universität in Oxford, einer der renommiertesten Bildungseinrichtungen weltweit. Er war weit gereist, hatte viel gesehen und galt als einer der führenden Okkultisten in Europa.
Im Morgengrauen begaben wir uns mit zwei Kutschen auf den Weg nach Transsylvanien, wo sich die Geschehnisse am meisten häuften. Die anstrengende Fahrt zwischen Hügeln, Gebirgen und unheimlichen, geisterhaften Landschaften dauerte mehrere Tagesritte. Kommissar Igor, der verantwortliche Polizist, und seine Männer würden uns erwarten. Wir sollten uns im Gasthof Lukar in der Gemeinde Bucau treffen, einem kleinen Ort in Transsylvanien mit gerade einmal fünfzig Einwohnern. Im Ort lebten nur alte Menschen – weder Kinder noch junge Erwachsene. Doch als wir kurz vor Morgengrauen dort ankamen, sahen wir schon von weitem die Leichen von Männern und Frauen. Ihre Gliedmaßen lagen überall verteilt im Schnee, den das Blut tränkte, zerfleischt wie von Wölfen – darunter auch Kommissar Igor und seine Leute. Das komplette Dorf wurde ausgelöscht, kein Einziger überlebte. In der Luft hing der Geruch des Todes und eine beängstigende Stille sorgte für Unruhe.
›Dafür sind Dracula und seine Wölfe verantwortlich! Er weiß, dass wir kommen. Er hat sich an den Menschen in diesem Dorf gerächt, weil sie uns hierher bestellt haben. Auch wir werden sterben‹, sagte Van Helsing leise mit zittriger Stimme.
Die Leibgarden zogen plötzlich die Schwerter und Gewehre heraus, es herrschte Panik. Etwas Schwarzes flog durch die Luft, das aussah wie eine monströse Fledermaus. Wir konnten nichts erkennen, hörten nur die Wölfe heulen. Mir stehen heute noch die Haare zu Berge. Die Wolken schoben sich rasch zusammen und verdeckten das wenige Sonnenlicht, das über die Wipfel schien. Es wurde immer dunkler, fing an leicht zu schneien und mit den Flocken kehrte das Wesen zurück. Wir rannten zu den Kutschen und die Kreatur schnappte sich einen Mann nach dem anderen aus der Leibgarde. Wir ritten los, und als ich nach hinten schaute, sah ich, wie die Männer nacheinander aus der zweiten Kutsche herausgezerrt und zehn Meter weit in die Luft geschleudert wurden. Ihre Schreie werde ich nie vergessen. In der vorderen Droschke saßen außer mir zwei Kollegen und Van Helsing. Ich merkte, dass sich die Fahrt verlangsamte. Ich wollte herausfinden, warum, und sah nach. Der Kutscher saß nicht an seinem Platz, sondern war offensichtlich auch hingeschlachtet worden von dem grauenvollen Wesen. Ich musste unbedingt den Kutschersitz erreichen, um den Wagen zu lenken. Während ich mich unter höchster Anstrengung nach vorne begab, wären wir beinahe einen Abhang hinuntergestürzt, aber wir prallten gegen einen Baum und steckten im Schnee fest, was unser Leben rettete. Wir lagen alle zerstreut auf dem Boden, und als ich nach oben blickte, sah ich diese scheinbar menschliche Gestalt auf mich zufliegen. Die Kreatur wollte mich schnappen. Doch auf einmal schrie sie auf und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Die Wolken verzogen sich allmählich und das Sonnenlicht brach wieder hervor. Da ahnten wir, dass sich das Wesen vor der Helligkeit fürchtete. Wir liefen durch den Wald und gelangten in das nächste Dorf. Professor Yusuf, Doktor Yahya, Van Helsing und ich versteckten uns sechs Monate in einem rumänischen Kloster. Dies war der längste Winter meines Lebens. Es schneite ununterbrochen. Hätten wir uns auf den Weg gemacht, wären wir alle grausam erfroren oder den Wölfen zum Opfer gefallen. Wir vertrieben uns die Zeit im Kloster, indem wir den Mönchen beim Holzhacken und sonstigen Arbeiten halfen. Der oberste Geistliche hieß Mönch Radu, ein sehr frommer Katholik. Wir beobachteten das Zusammenleben der Ordensbrüder hinter den Mauern in ihren bescheidenen Räumlichkeiten, wie sie gemeinsam beteten, arbeiteten und aßen. Unsere beiden Religionen, der Islam und das Christentum, unterschieden sich kaum voneinander. Wir glaubten an den gleichen Gott, glaubten an das Gute wie an das Böse. Sechs Monate lang nahmen wir nur Bohnen, Wasser Reis und Brot zu uns. So auch die Mönche – trotzdem konnte man keine Unzufriedenheit in ihren Gesichtern erkennen. Sie waren ungemein nett zu uns und hilfsbereit, und ohne sie wären wir längst tot. Wir durften ihre mannigfaltige Bibliothek benutzen und machten uns mit den Familien und der Geschichte des Landes vertraut. Ich weiß nicht, wie viele Bücher ich gelesen habe und wie viele Nächte ich in der Bibliothek verbracht habe.
Eines Nachts hörte ich ein Schreien und Stöhnen einer Frau. Ich folgte der Stimme, die mich zum Ende des Verlieses der alten Gemäuer führte. Vor der Tür stand ein Mönch, der mir sagte, ich dürfe nicht hineingehen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und ich sah eine junge besessene Frau ans Bett gefesselt. Ihr Gesicht war gezeichnet von Narben und Verletzungen und sie kam einem verfaulten Leichnam gleich. Ihre Augen waren blutrot, die Zähne spitz und ich sah vereiterte, dunkle Flecken auf der linken Halspartie. Sie sagte etwas mit tiefer, veränderter Tonlage in einer mir unbekannten Sprache. Radu bat mich, hineinzukommen. Verängstigt und vorsichtig betrat ich das Zimmer. Die Mönche redeten auf sie mit Gebeten ein: ›Verlass ihren Körper, du Dämon! Geh fort!‹ Aber es brachte nichts, das Geschöpf lachte nur laut und verschmähte die Mönche. Sie sah mir tief in die Augen. Ich konnte den Blick nicht abwenden und war wie in Hypnose erstarrt.
›Du wirst auch sterben, Sahin! Du und deine Gefolgsleute, ihr werdet alle sterben!‹, sagte sie.
Ich war erstaunt und fragte sie, woher sie meinen Namen kenne, doch sie lachte nur hämisch.
›Ich weiß alles über dich.‹ Dabei verdrehte sie die Augen und schlug den Kopf schnell, kaum sichtbar, nach links und rechts. Sie versuchte, einen Mönch zu beißen, der sich anschickte, ihre Fesseln wieder strammer zu ziehen. So etwas Dämonisches hatte ich nie zuvor in meinem Leben gesehen, es war äußerst angsteinflößend. Radu bemerkte, dass ich mich nicht wohlfühlte, und brachte mich vor die Tür. Er erzählte mir, dass sie das letzte