dass sie zurückbleiben sollten, da er keine Angst vor dem Wolf habe.
Als hätte er seine Worte verstanden, drehte der Wolf seinen Kopf zu ihm und schaute ihn an, als wenn er direkt in seine Seele blicken würde. Sofort erinnerte sich Adalbert an den schrecklichen und alles verändernden Tag, an dem der sterbende Drache Allturith seinen letzten Atemzug getan und seine Seele auf ihn übertragen hatte. Wieder kämpfte er mit den Tränen. Warum mussten bloß so viele der Lebewesen sterben, die er seit diesem Tag kennengelernt hatte?
Die Pfeile der Estrilljahner steckten tief in der Brust und in der Flanke des Wolfes. Das herausquellende warme Blut verfärbte das seidig weiße Fell und tropfte auf den kalten Boden, wo es sofort gefror.
Adalbert griff in seine Tasche und zog das kleine Fläschchen mit Merthurillhs Tränen hervor, aus denen die Waldelfen das geheimnisvolle Heilöl bereitet hatten, mit welchem er bereits seinen Elfenfreund Antharill zu retten versucht hatte, bevor dieser sich in den Hengst verwandelt hatte.
Er öffnete das Gefäß und stellte es vorsichtig so neben sich in den Schnee, dass es nicht umfallen konnte. Dann beugte er sich über den Wolf und flüsterte ihm ins Ohr: „Bleib ruhig, mein Schöner. Ich werde dir gleich die Pfeile aus deinem Körper ziehen und dich dann heilen. Den Tod von Tork konnte ich leider nicht verhindern, aber du wirst heute ganz sicher nicht sterben!“
Schnell, aber trotzdem möglichst behutsam, zog der Junge den Pfeil aus der blutverschmierten Brust heraus, warf ihn zur Seite und beobachtete den Wolf besorgt. Dieser hatte sich kaum bewegt. Nur das schmerzverzerrte Jaulen bewies, dass er noch immer lebte. Aus der offenen Wunde strömte das Blut, als ob es ein reißender Gebirgsbach wäre. Rasch griff Adalbert zu der kunstvoll verzierten Flasche und tröpfelte vorsichtig etwas von der heilenden Flüssigkeit in die Wunde. Es zischte so ähnlich, wie wenn Fett in die Glut eines Lagerfeuers tropfte. Sofort stiegen hellgraue Dämpfe aus der Verletzung empor. Nun wiederholte Adalbert die Prozedur auch beim zweiten Pfeil. Noch bevor er das Fläschchen wieder zugeschraubt hatte, begannen die ersten Wunden bereits, sich zu schließen. Jordill war inzwischen dazugekommen und hatte dem Wolf tröstend den Kopf gestreichelt. Als Adalbert den zweiten Pfeil herausgezogen hatte, presste der Elf seine Stirn an die des Wolfes, um ihm Kraft zu geben, damit er diese schmerzhafte Behandlung überstehen konnte.
„Morgen wirst du wieder laufen können, mein Freund“, tröstete er den Wolf, wobei er manchmal traurig zu den Überresten seines Onkels hinüber sah, als wenn dieser plötzlich, wie durch ein Wunder, wieder auferstehen könnte.
Adalbert konnte im Moment nichts mehr für die Wunden des Wolfes tun, rutschte zu Jordill heran und forderte den Elfen auf, doch wieder zu Tork zurückzugehen, um den Estrilljahnern dabei behilflich zu sein, die sterblichen Überreste für den Transport vorzubereiten.
„Ich werde dir gleich folgen, möchte mich aber zuvor noch bei unserem neuen Freund für seinen mutigen Rettungsversuch bedanken“, erklärte Adalbert und legte behutsam den großen Kopf des Wolfes in seinen Schoß.
Jordill führte ein leises Gespräch mit dem Anführer der Kapuzenmänner und kam dann noch einmal zu Adalbert zurück, um ihm zu berichten, was der Estrilljahner ihm gesagt hatte.
„Es tut dem Anführer wirklich leid, dass sie den weißen Wolf getroffen haben. Sie wussten nicht, in welcher Verbindung er zu uns stand. Außerdem stand er mitten in der Schusslinie zu den Narsokk-Wölfen. Der Estrilljahner nannte mir seinen Namen und bat mich, dass ich ihn dir sagen sollte“, begann Jordill, bevor er von Adalbert ungeduldig unterbrochen wurde.
„Sag schon, wie heißt er und warum nennt er mir seinen Namen denn nicht selbst?“, fragte Adalbert, der nun wieder vorsichtig zu dem Fremden sah.
„Sie sprechen nicht gerne mit Menschen oder Zwergen, denn in der Vergangenheit haben sie sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Besonders die Menschen haben sie wegen ihres Aussehens stets wie Aussätzige behandelt und verspottet. Das führte dazu, dass sie ihr Antlitz vor euch stets verbergen und nur sprechen, wenn es unbedingt notwendig ist“, erklärte der Elf.
„Na da bin ich ja wirklich froh, dass es diesmal nicht nur wir Menschen sind, die alleine für alles Schlechte verantwortlich sind, sondern dass es auch mal die Zwerge trifft“, erwiderte Adalbert leicht gereizt.
Schon seit vielen Tagen beschäftigte ihn der Gedanke, dass die Menschen wohl noch nicht viel Gutes für das Drachenland geleistet hatten. Ganz im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass sein eigenes Volk eigentlich mehr dazu beigetragen hatte, das harmonische Leben in seiner Heimat zu erschweren oder gar völlig zu zerstören. Wie schön musste die Zeit gewesen sein, von der Merthurillh ihm erzählt hatte, als es Frieden zwischen den verschiedenen Völkern des Drachenlandes gegeben hatte und die Drachen sogar die Höfe der Bauern bewacht hatten.
„Sein Name ist Sardornosh. Es ist ein elfischer Name, denn die Estrilljahner sind ferne Verwandte von uns“, riss ihn Jordill aus seinen Gedanken heraus. „Sardornosh bedeutet Adlerblick. Die Estrilljahner sind Meister der Magie, daher haben sie sich auch vor vielen Generationen von uns losgesagt, denn ihre Magie ging viel weiter, als wir es der unsrigen erlaubt hätten. Wir haben schon immer darauf geachtet, dass die Magie nur zum Wohl und nie zum Schaden der Natur und aller Lebewesen eingesetzt wurde. Doch dieses Elfenvolk war damit nicht einverstanden. Sie waren damals der Meinung, dass böse, dunkle Magie zu guter werden würde, wenn sie gegen die Feinde der Elfen eingesetzt würde. Da wir das jedoch niemals zugelassen hätten, kam es zur Trennung unserer Völker. Aus ihnen gründete sich im Laufe der folgenden Generationen das Volk der Estrilljahner. Mehr möchte ich dir jetzt nicht erzählen. Wir werden einen geeigneteren Zeitpunkt finden, um unser Gespräch zu vertiefen.“
„Du klingst schon fast wie der weise und erfahrene Antharill“, stellte Adalbert fest.
„Danke für das Kompliment, aber jetzt werde ich endlich zu Tork gehen, zumindest zu dem, was die Narsokk-Wölfe von ihm übrig gelassen haben.“
Noch immer streichelte Adalbert liebevoll den großen Kopf des weißen Wolfes und sah seinem trauernden Freund hinterher. Plötzlich registrierte er, dass die Estrilljahner nicht mehr da waren. Gerade eben noch hatten sie dort drüben gestanden und jetzt waren sie wie vom Erdboden verschwunden. Das konnte nur Magie sein, wobei sich Adalbert darüber Gedanken machte, ob es gute oder schlechte Magie war, die dieses Volk plötzlich unsichtbar machen konnte. Irgendwie zog ihn diese geheime Kraft geradezu magisch an.
Tief in seiner Brust spürte er, dass er sich mit etwas beschäftigte, mit dem er sich eigentlich nicht befassen durfte, aber dieser ungeheuren Anziehungskraft konnte er sich kaum widersetzen. Es kam ihm vor, als ob er sich gerade auf einen See begeben hätte, dessen Oberfläche sich erst vor kurzem in eine Eisfläche verwandelt hatte. Jeden Moment konnte das junge Eis unter seiner Last brechen und ihn in die eisige Kälte der Tiefe reißen, aus der es keine Rettung mehr gab.
„Steh auf, mein weißer Wolf. Mehr kann ich im Moment nicht mehr für dich tun. Aber wenn du irgendwann einmal in Gefahr gerätst, dann wünsche ich mir, dass ich es sein darf, der dir zur Hilfe kommt.“
Adalbert kraulte dem Wolf das Kinn und fasste ihm in sein dichtes Kragenfell, als dieser mit zittrigen Beinen versuchte, aufzustehen. Als Adalbert nun zu Jordill ging, folgte ihm der Wolf wackelig auf dem Fuß.
„Die Estrilljahner haben Tork mitgenommen“, sagte Jordill und klang irgendwie erleichtert. Adalbert sah sich um und stellte fest, dass er nur noch das gefrorene Blut entdecken konnte. Die anderen sterblichen Überreste waren alle verschwunden.
„Wie haben sie das denn bloß gemacht?“, wunderte sich der Junge.
„Mit Magie, der Form, die wir nicht anwenden, denn sie kann den Sprecher der geheimen Formel schnell zu einem Sklaven des Bösen machen. Trotzdem bin ich froh, dass mir die Aufgabe erspart geblieben ist, Tork … für den Transport … vorzubereiten. Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie er war, bevor … vor heute.“
„Lass mich bitte die Wunde an deinem Hals ansehen, denn sie blutet noch immer“, bat Adalbert seinen Freund, um ihn etwas abzulenken. Wieder waren nur wenige Tropfen aus dem geheimnisvollen Fläschchen nötig, um die blutenden Wunden des Elfen zu schließen. Doch bei Jordill zischte es nicht