Onora O'Neill

Gerechtigkeit über Grenzen


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nicht getötet zu werden und einer Tötung ihrerseits mit der geringstmöglichen Wirkung vorzubeugen. (Auch hier sind solche Fälle häufig nicht so einfach zu klären – A weiß ja unter Umständen nicht, dass die Tür schusssicher ist oder er denkt schlicht nicht an die Tür oder glaubt vielleicht, dass ein Schuss auf B eine sicherere Maßnahme wäre.) Das Recht auf eine dem Angriff entsprechende (verhältnismäßige) Selbstverteidigung, welches A’s Schuss auf B rechtfertigen würde, selbst wenn klar ist, dass das Verschwinden hinter der Tür ausgereicht hätte, um B’s Leben zu bewahren, geht meiner Ansicht nach nicht aus dem Recht hervor, nicht getötet zu werden. Möglicherweise ließe sich das Recht auf eine solche verhältnismäßige Gewaltanwendung rechtfertigen, indem man den Anspruch erhebt, dass ein Aggressor bestimmte Rechte einfach verliert, doch ich werde mich zu diesem Thema nicht äußern.

      In gewisser Hinsicht ist das eng gefasste Recht auf Selbstverteidigung, das als logische Konsequenz aus dem Recht, nicht getötet zu werden, hervorgeht, weitreichender als einige andere Auslegungen dieses Rechts. Denn es gibt uns das Recht zu handeln gegen all jene, die unser Leben in Gefahr bringen, unabhängig von der Tatsache, ob sie dies bewusst oder absichtlich tun. A’s Recht, nicht getötet zu werden, berechtigt ihn, sich nicht nur gegen Aggressoren zu wehren, sondern auch gegen „ungewollte Bedrohungen“10, die Leben gefährden, ohne von einem Aggressor auszugehen. Wenn B versehentlich oder unbeabsichtigt möglicherweise A’s Tod verursacht, dann hat A, wenn er das Recht hat, nicht getötet zu werden, ebenfalls ein Recht zu tun, was immer nötig ist, um B davon abzuhalten, solange dieses Tun nicht B’s Recht verletzt, ungerechtfertigt getötet zu werden. Wenn B eine hochgradig ansteckende und unweigerlich zum Tod führende Krankheit hat und sich A nähert, dann darf A versuchen, B davon abzuhalten, selbst wenn B nichts über die Gefahr weiß, die er mit sich trägt. Wenn alle anderen Mittel fehlschlagen, dürfte A den B zur Selbstverteidigung sogar töten, obwohl B kein Aggressor war.

      Nehmen wir zwei verschiedene Sachverhalte: 1) ein gut ausgerüstetes Rettungsboot; 2) ein unzureichend ausgestattetes Rettungsboot. Natürlich mag es auch Fälle geben, in denen die Überlebenden eines Schiffbruches nicht sicher sein können, was nun auf sie zutrifft, aber davon sehen wir hier der Einfachheit halber ab. Auf einem gut ausgestatteten Rettungsboot können alle überleben, bis Rettung eintrifft. In diesem Falle wäre keine Tötung als unvermeidlich zu rechtfertigen. Wenn jemand trotzdem getötet wird, dann könnte dies nur mit Notwehr gerechtfertigt werden, und auch nur in bestimmten Situationen. Betrachten wir einmal die folgenden Beispiele:

      1A) Auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot mit sechs Personen droht A, die Süßwasservorräte über Bord zu werfen, ohne die einige oder alle Insassen nicht bis zur Rettung durchhalten würden. A ist entweder feindselig oder verrückt. B versucht, mit A zu reden, aber als dies fehlschlägt, erschießt er ihn. B kann sich auf sein Recht und das der anderen Bootsinsassen auf Selbstverteidigung berufen, um A’s Tod zu rechtfertigen. „Er oder wir“, mag er anführen. „Er hätte uns alle in eine Situation gebracht, in der wir nicht ausreichend ausgestattet gewesen wären, um zu überleben.“ Dies könnte er sowohl anführen, wenn A voller Absicht die anderen bedroht hätte, als auch, wenn er sich der Folgen seiner Tat nicht bewusst gewesen wäre.

      1B) Auf einem gut ausgestatteten Rettungsboot mit sechs Personen beschließen B, C, D, E und F, dem A nichts mehr zu essen zu geben, woraufhin dieser stirbt. In diesem Fall können die Übrigen sich nicht auf ihr Recht zur Selbstverteidigung berufen – denn es hätten ja schließlich alle überleben können. Sie können auch nicht anführen, dass sie A schließlich nur verhungern ließen („Wir haben ja nichts getan!“) – denn A wäre anders nicht gestorben. Hier geht es auch nicht um einen Verstoß gegen das problematische Recht, nicht am Sterben gehindert zu werden, sondern um einen Verstoß gegen das Recht, nicht getötet zu werden. Dieser Verstoß kann nicht durch Verweis auf die Unvermeidbarkeit dieses Todes oder das Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt werden.

      Auf einem nicht ausreichend ausgerüsteten Rettungsboot können nicht alle überleben, bis Rettung naht. Einige Todesfälle sind also unvermeidbar, aber manchmal ist einfach nicht klar, wer betroffen sein wird.

      Hier einige Beispiele:

      2A) Sechs Personen haben sich auf ein Rettungsboot mit spärlicher Ausrüstung retten können. A ist sehr krank und braucht besonders viel Wasser, das ohnehin schon knapp ist. Die anderen entscheiden, dass sie ihm überhaupt kein Wasser geben, und A stirbt an Wassermangel. Wenn A etwas zu trinken bekommt, überleben nicht alle Personen. Andererseits ist klar, dass A getötet wurde und sein Tod nichts mit Sterbenlassen zu tun hat. Hätte er Wasser bekommen, hätte er vielleicht sogar überlebt. Einige Tode wären unvermeidbar gewesen, aber der von A war es nicht. Ihn zum Opfer zu machen heißt, sich dafür rechtfertigen zu müssen.

      2B) Auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot mit sechs Personen ist nur so viel Wasser vorhanden, dass vier Menschen überleben können. (Vielleicht ist die Entsalzungsmaschine nur für vier Personen ausgelegt?) Wer aber soll kein Wasser bekommen? Nehmen wir einmal an, zwei Menschen werden, entweder durch das Los oder durch eine andere Methode, bestimmt, kein Wasser zu bekommen und sterben deshalb. Die anderen können sich nicht darauf berufen, dass sie die beiden schließlich nur haben sterben lassen – denn auch die beiden könnten zu den Überlebenden gehören. Niemand hatte mehr Anspruch aufs Überleben als der andere, aber da nun mal nicht alle überleben konnten, wurden die Toten gerechtfertigterweise getötet, wenn die Methode der Wahl fair war. (Was eine solche Wahl fair erscheinen lassen würde, darüber gäbe es allerdings noch einiges zu sagen.)

      2C) Wir befinden uns in derselben Situation wie unter 2B, doch die beiden, die kein Wasser erhalten sollen, bitten darum, sofort erschossen zu werden, um ihnen die Qual des Verdurstens zu ersparen. Auch hier können die Überlebenden nicht behaupten, sie hätten die beiden nicht getötet, sondern sich maximal darauf berufen, dass die Tötungshandlung gerechtfertigt war. Ob dies der Fall ist, hängt nicht davon ab, ob die beiden Opfer nun erschossen wurden oder verdursten mussten, sondern einzig davon, dass einige Tode unvermeidbar waren und das Verfahren zur Auswahl der Opfer fair war.

      2D) Wir haben wieder dieselbe Situation wie in 2B, doch die beiden, die kein Wasser erhalten sollen, rebellieren. Die anderen erschießen sie und behalten so die Kontrolle über das Wasser. In diesem Fall ist klar, dass die beiden Opfer aktiv getötet wurden, aber auch hier ist die Tötung unter Umständen gerechtfertigt. Ob die Überlebenden nun mit Recht getötet wurden, hängt weder von der Tötungsart noch von der verweigerten Zusammenarbeit der Opfer ab, obwohl man davon ausgehen kann, dass diese Zusammenarbeit für die Frage, ob der Auswahlprozess fair war, unter Umständen von Bedeutung ist.

      Solche Rettungsboot-Situationen sind im wirklichen Leben selten. Wir werden selten vor die Wahl gestellt, durch unsere Entscheidung, wie magere Rationen zu verteilen sind, zu töten oder getötet zu werden. Und doch ist diese Situation ganz real, was die Lage der menschlichen Rasse auf diesem Planeten angeht. Die heutzutage so häufig begegnende Metapher vom „Raumschiff Erde“ lässt uns eher an Drama, weniger an Gefahr denken. Wenn wir unsere Situation aber nüchtern betrachten, wäre ein anderes Bild vielleicht angemessener: das vom „Rettungsboot Erde“.

      Vermutlich erhebt sich durchaus Widerspruch gegen die Vorstellung vom „Rettungsboot Erde“. Ein Rettungsboot ist klein, alle an Bord haben denselben Anspruch darauf, dort zu sitzen und ihren rechtmäßigen Anteil an den Vorräten zu erhalten. Die Erde hingegen ist groß, und es mögen zwar alle das Recht haben, sie zu bewohnen, doch manche haben zusätzlich noch Eigentumsrechte, die ihnen bestimmte Möglichkeiten zum Konsum geben, die andere Erdbewohner nicht haben. Die hungernden Millionen sind weit, weit entfernt und haben kein Recht auf das, was reiche Menschen oder Nationen besitzen, auch wenn es sie vor dem Tod bewahren könnte. Wenn sie sterben, wird es heißen, das sei höchstens ein Verstoß gegen ihr Recht, dass man sie nicht sterben lässt. Und dieses Recht habe ich ausdrücklich nicht angenommen und nicht etabliert.

      Ich denke, für frühere Zeiten hätte man dies vernünftigerweise behaupten können. Die Armut und der daraus folgende Tod von Menschen in fernen Ländern waren etwas, was die Reichen möglicherweise hätten beeinflussen können, wobei sie jedoch (häufig) untätig geblieben waren. Daher haben sie das Recht der weit entfernt Lebenden, nicht getötet zu werden, nicht verletzt. Doch die ökonomische und technologische