Peter Sloterdijk

Unter der Platane


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      Die Platane vor dem Haus in Chantemerle-lès-Grignan.

      © Peter Trawny

       Peter Sloterdijk / Peter Trawny

       Unter der Platane

      Ein philosophisches Gespräch

       Klostermann Essay 3

      Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

      © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2019

      Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

      Satz: Marion Juhas, Frankfurt am Main

      E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

      ISSN 2626-5532

      ISBN 978-3-465-24415-8

       Vorwort oder Über die Denkpause und das Lachen

      Wer, wie ich, Anfang der Sechzigerjahre geboren wurde, ist mit Peter Sloterdijks Denken aufgewachsen. Gewiss, ich war bereits 19, als die Kritik der zynischen Vernunft erschien. Doch von da an wurde meine Zeit an der Universität von jenem eleganten Sound begleitet, der noch heute, mehr als dreißig Jahre später, zum Nachdenken einlädt. Und es ist überhaupt etwas Einladendes, Zuvorkommendes, ja Großzügiges an Sloterdijks Denken.

      Als ich im Mai 2019 das Ehepaar Sloterdijk in Chantemerle-lès-Grignan, ungefähr 20 Kilometer südwestlich von Montélimar unweit der Rhône gelegen – ein Dorf, das »malerisch« zu nennen ein Understatement wäre –, besuchte, um mit Peter Sloterdijk ein Gespräch über das Verhältnis von Biographie und Philosophie zu führen, schloss sich daher ein Kreis meines Lebens. Dass dieser Kreis im Gesprächsthema selbst angelegt sein sollte, gehört im eminenten Sinne zur Philosophie. Denn eine Reflexion auf ihre lebensweltlichen Bindungen ist ihr unerlässlich. Darum sind philosophische Texte – mal mehr, mal weniger deutlich – Lebenstexte.

      Zum Thema Biographie und Philosophie ließe sich vieles sagen. Mich treibt es um, weil ich immer mehr zur Einsicht gelange, dass Philosophie keineswegs eine neutrale und indifferente Wissenschaft ist, wie es manche ihrer akademischen Repräsentanten gerne behaupten, sondern eine Lebensform, die das Denken selbst als Leben und das Leben als Denken erfährt. Die Philosophie hat so keinen externen Zweck, sondern eine Motivation, die sich allein intrinsisch – eben vom Denken und Leben selbst her – begründet. In dieser Hinsicht ist sie näher an der Kunst und Literatur als an der Wissenschaft, deren Modell in der Moderne die vermeintlich neutral forschenden Naturwissenschaften liefern.

      So entspannen sich an zwei schönen Tagen an jenem einzigartigen Ort unter einer leise schwingenden Platane im Hof des gastfreundlichen Hauses Gespräche, die in einem konzentrierten Austausch über das angesprochene Thema gipfelten. Er hatte, durchaus geplant, folgenden Verlauf: Es gibt eine Topographie des Denkens, ein Entstehen des Philosophierens an verschiedenen Orten des Lebens, aus der sich eine Topo-bio-graphie des Denkens ergibt; das wird mit Nietzsches Gedanken, dass es in der Philosophie »ganz und gar nichts Unpersönliches«1 gebe, verknüpft; von dort aus war zu fragen, was das Philosophieren, wenn es die Biographie des Denkenden in sich aufnimmt, noch von der Literatur zum Beispiel Franz Kafkas unterscheidet; danach konnten wir überlegen, ob und inwiefern die Philosophie fähig ist, Liebe und Tod als zwei zentrale biographische Knoten zu thematisieren.

      Gespräch – es gibt in der Philosophie seit Platons Dialogen eine Sehnsucht, das Denken in der Vitalität eines gelebten Ereignisses aufgehen zu lassen. Sokrates hat nichts geschrieben; eine radikale Stellungnahme gegen das Fixierende und auch Tötende der Schrift. Daher haben nicht wenige Philosophen seit der Antike versucht, sich an Platons Vorbild zu orientieren. Noch Heidegger schrieb Gespräche. Doch man muss sich klar machen, dass geschriebene Gespräche Geschriebenes bleiben. Das Lebendige des Gesprächs ist kaum wiederzugeben.

      Bemerkenswert ist, was bei der Übertragung eines Gesprächs in die schriftliche Form verloren geht. Beim wiederholten Hören wird die Idiomatik einer Stimme so deutlich, dass die Reduktion auf den Wortlaut der Aussagen zerstört, was in der Lebendigkeit des Sprechens unüberhörbar ist. Und was bleibt von einem Gespräch übrig, wenn das, was an der Stimme einzigartig ist, verloren geht? Ich möchte nur zwei Elemente dieses Verlustes betonen: die Denkpause und das Lachen.

      An verschiedenen Stellen des Gesprächs bricht Sloterdijks Redefluss abrupt ab. Er denkt nach – manchmal kürzer, manchmal länger. Diese Denkpausen lassen sich durch Gedankenstriche wiedergeben. Eine Pause im Denkfluss ist eine Unterbrechung. Sie ist demnach keineswegs mit einer Pause in der Musik zu vergleichen – jedenfalls nicht in der »klassischen«. Während dort die Sinneinheit eines Themas zunächst ausgespielt wird, um nach einer Pause mit einer anderen Sinneinheit anzuheben, lässt die Pause im Gespräch den Sinn implodieren. Sie bildet ein Zwischen, das unmittelbar eine gewisse Verwirrung stiftet, die erst verschwindet, wenn das Sprechen wieder in Gang kommt.

      Denkpause ist so auch Atempause, ein sinn-volles Anhalten, Sich-sammeln des Lebens, um dann wieder über sich hinaus zu gehen, zum Anderen. Das Sprechen basiert ja geradezu auf dem Atem, einer der unmittelbarsten Äußerungsformen des Lebens. Er ist ein Rhythmus, der sich gerade in der Pause akzentuiert. Daher ist jenes Zwischen, in dem sich die Bedeutungen zunächst verlieren, geradezu ein Lebens-Zeichen. Philosophisches Sprechen ist wie das poetische ein solches Lebens-Zeichen.

      Anders als die Denkpause kann man das Lachen nicht in einem graphischen Zeichen repräsentieren. Ich musste also mit dem Wort selbst wiedergeben, was im Verlauf des Gesprächs oft geschah, nämlich dass wir beide häufig und laut gelacht haben: »[…] ihr solltet lachen lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht daß ihr daraufhin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt – und die Metaphysik voran!«, schreibt Nietzsche. Und wirklich wird in der Philosophie allgemein sehr selten, wenn überhaupt, gelacht. Die Aristotelische Festlegung des Philosophierens auf den Ernst scheint wie ein Siegel die Geschichte der Philosophie erst zu beglaubigen. Der Ernst dient als Beweis der Wahrheit. Wer lacht, scheint kein Interesse an ihr zu haben.

      Doch genau das ist ein Kurzschluss: »Über sich selber lachen, wie man lachen müßte, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie!«2 Zur Wahrheit gehört die Befreiung vom Rechthabenwollen. Über sich selbst lachen zu können, ist daher keineswegs nur die Fähigkeit zur Selbstironie. Sie schon kann im Schreckenskabinett der Bierernsten vieles ausmachen. Aber wirklich über sich selbst lachen zu können, geht noch über diese Ironie hinaus. Man schafft so die Sphäre, in der Wahrheit, die niemandem gehört, erscheinen kann.

      Das Gespräch, das unter jener Platane stattfand, ist das Echo einer guten, herzlichen Stimmung. Es schweift in einem Themenpark, ohne sich einem Diktat zu beugen, irgendwelche Erkenntnisse und Resultate liefern zu müssen. Es verschwendet müßig die Zeit einer heiteren Begegnung. Was ich nicht abbilden konnte – das Summen der Insekten, den Wind im Baum, die sichtbare Aufmerksamkeit eines Hundes, den nassen Pelz einer ertrunkenen Maus, das Spielen von Licht und Schatten und die immense Gastfreundlichkeit – bleibt in meiner Erinnerung.

      26.6.2019

      Peter Trawny

      Peter Sloterdijk, Peter Trawny und die Hündin Jule.

      © Roberto De Simone

PS Peter