Scheitern wird – ganz in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Kapitel (9.3) meines Gorbatschow-Buchs – herangezogen, um die Notwendigkeit der Entfesselung eines revolutionären Prozesses der Perestrojka gegen absolutistische Vorstellungen zu verteidigen. Die gegenwärtige Krise dieses nun tatsächlich entfalteten Prozesses wird nicht mitgedacht.
15. November 1990
Das eigne Projekt ›historisch‹ zu betrachten, ist gefährlich. Gefährlich nicht nur für die emotionale Hülle, die nun als Illusionsblase durchschaut wird, sondern wegen der gefährlichen Metastasen des Jetzt. Die »Illusionslosigkeit« gerät zur Illusion zweiten Grades, die das Totenreich auf Erden immer schon vorwegnimmt.
Historisch betrachtet wäre anzunehmen, dass »Marxismus« wie jede andere »Philosophie« nur als Staatsideologie zu dauern vermöchte. Freilich nicht als Ideologie eines bestimmten Staates, sondern als Ideologie einer bestimmten Staatlichkeit, Politik im antiken Sinn. Konkrete Politik würde dann von den Adepten daraus abgeleitet und von den Machtinteressenten damit legitimiert.
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In Thomas von Aquins Summa theologica lesend, diesem in die große Erzählung zwischen Exitus und Redditus eingebauten System aller erdenklichen Zweifel und ihrer definitiven Beantwortung, scheint es mir, dass dieses Genre der Traum der marxistisch-leninistischen Handbuchschreiber und ihrer Auftraggeber war.
16. November 1990
Svetlana und Alexander Askoldow werden sich als Gäste der Akademie der Künste für einige Monate in Berlin aufhalten. Gestern Abend statteten wir ihnen einen ersten kurzen Besuch ab. Der Schrecken und die Angst des sowjetischen Zerfalls sprechen aus ihnen. Schon an der Wohnungstür hörten wir, dass es in Moskau kein Salz und keine Streichhölzer mehr gibt.
Frigga bemerkte die mimetische Sprechweise von Alexander, der mit den Händen gestaltet und nicht nur mit dem Gesicht, sondern mit dem ganzen Körper ausdrückt, was er sagt. Vielleicht desto mehr, als er weiß, dass wir kaum russisch verstehen und auf die englische Übersetzung Svetlanas angewiesen sind.
Sie machen Gorbatschow zum Clown, sagte er. Alles, was Gorbatschow tut, ist von vorneherein durchkreuzt. Die heutige, vom Obersten Sowjet gegen Gorbatschows Willen verlangte Rechenschaft erwarten sie mit hoffnungsloser Verzweiflung.
Jelzin schildern sie als ziemlich üblen Demagogen, der auch im Alltäglich-Mitmenschlichen mies sei, wie im Suff jederzeit herauskomme. Wir verstehen nicht nur Kritik an J., sondern spüren wieder einen Hauch vom heillosen Auseinanderfallen, das derzeit für die russischen Verhältnisse so charakteristisch ist. Die Askoldows deuteten sogar eine Art von »Verrat« seitens Jakowlews an, weil dieser mit Jelzin nach dessen Parteiaustritt gesprochen und ihm die Hand gedrückt habe.
Als ich Alexander das »Perestrojka-Journal« überreiche und erkläre, was ich darin versucht habe, sagt er mehrfach, er hätte ähnliches tun müssen, Theorie und Interpretation aufschiebend, einfach täglich verzeichnen, was geschieht.
17. November 1990
Telefonisch von Irene D. die Nachricht, Michael B. habe sich vor seiner Fakultät als Stasi-Mitarbeiter (seit 1977) offenbart. Lähmungsgefühle.
Gorbatschow scheint eine Woche Aufschub gewonnen zu haben. Sein Schachzug: eine Art Länderkammer (Aufwertung des »Föderationsrates«) als Vorgriff auf einen neuen Unionsvertrag. Er spricht von Machtkampf. Der BBC-Kommentator heute früh sagte, Gorbatschow habe seine Grenze erreicht, bis wohin man mit ihm »Reformen« machen könne. Er sei eben doch ein Kommunist.
19. November 1990
Gorbatschows »Überraschungsmanöver« bestand darin, dass er sich die Unionsregierung unterordnen will, wie das in den USA der Fall ist. Das läuft auf Entlassung von Ryschkow hinaus. Der Föderationsrat soll durch ein interrepublikanisches Komitee unterstützt werden. Der Präsidialrat soll durch einen Sicherheitsrat ersetzt werden. Die alte Idee einer Kontrollbehörde, die in allen Republiken Stützpunkte erhalten und die Verwirklichung von Gesetzen garantieren soll, taucht wieder auf. Eine weitere Sonderbehörde beim Präsidenten soll sich mit Schwarzmarkt und Kriminalität befassen. Die Rede, in der Gorbatschow dieses Konzept vorstellte, dauerte nur 10 Minuten, im Gegensatz zu der anderthalbstündigen Eröffnungsrede, worin er nichts Neues gesagt hatte.
Jetzt wird anscheinend spekuliert, dass Sobtschak eine führende Stellung in der neuen Exekutive bekommen soll.
Gestern am ehemaligen DDR-Fernsehen, jetzt DFF 1, zufällig eine Diskussion über Anna Seghers gesehen, offenbar ausgelöst durch eine Bücherverbrennung, der ihr Werk zum Opfer gefallen war und durch Kampagnen zur Umbenennung von Straßen usw., die ihren Namen tragen. Verzweifeltes Aufbäumen der DDR-Schriftsteller, den Platz ihrer Literatur verteidigend. Die Frage, warum die Seghers im Janka-Prozess geschwiegen hat. Es wurde angedeutet, dass unter Angst. Eine Sendung, die bereits wie aus einer anderen Zeit wirkt und gewiss nicht mehr lange erlaubt sein wird. Zeigt eine tiefe Verletzung.
23. November 1990
Rundfunkdiskussion (in DS Kultur) mit Träder und Kapferer, moderiert von der wackeren Ulrike Bürger. Ob der Marxismus eine Sackgasse der Menschheitsentwicklung. Man müsste so viele Gleichungen des Tages aufsprengen: Marx = Marxismus, Marxismus = Marxismus-Leninismus, diktatorischer Staatssozialismus = Sozialismus.
Ich habe ja Marxismus gleichsam in der Fernuniversität studiert, nämlich auf Distanz bei Abendroth, Adorno, Benjamin, Bloch, Brecht, Gramsci, Horkheimer, Lukács.
Träder (von Buhrs Institut) hat in Leipzig bei Wittich studiert. Das Argument und das Wissen, dass es im Westen eine lebendige marxistische Tradition gab, habe eine »belebende Wirkung« für sie gehabt. Er sprach es sächselnd: »belehmnd«, sodass ich zunächst »lähmende Wirkung« verstand. Buhr schildert er als gespalten. Er sei halt auch Philosoph.
Vom Sender in der Nalepastraße mit einem klapprigen Taxi, dessen Türgriff beim Zuziehen abging, über Köpenick nach Friedrichshagen, in einem immer noch fremden Land. An Michael Bries Wohnungstür steckte ein Zettel: »Bin kurz zum Arzt, 11h30«, und es war erst kurz danach. Ein kalter Regen ging nieder. Nachdem ich eine Weile fröstelnd den verhangenen Müggelsee und die riesigen Weidenbäume, die sich über ihn beugten, betrachtet hatte, flüchtete ich ins Treppenhaus, mit zweifelnden Gedanken an den, der mich doch herbestellt hatte. Etwas später erschien ein kleiner Junge, der artig Guten Tag sagte und die Tür inspizierte, bis er den Zettel entdeckte. Das war der achtjährige David Brie, dessen Schulklasse jetzt Schwimmen hatte, wovon er aber befreit war wegen seiner Hand. Er schob den Verband zurück, zeigte Verbrennungsnarben und erzählte den Hergang, wie er Rühreier hatte machen wollen und wie beim Einschlagen des Eis das siedende Öl auf die Hand spritzte, worauf er die Pfanne fallen ließ. Er bat mich herein, und ich durfte die von der glühend heißen Pfanne hinterlassenen Brandkerben auf dem Küchenfußboden besichtigen. David ließ sich nicht zweimal bitten, mir einen Kaffee zu brühen. Dann begann er, Schulaufgaben zu machen, während ich meine Zeitung las, verblüfft ob so viel Bravheit.
Eine halbe Stunde später sah ich durchs Fenster, wie Micha Brie aufs Haus zuging, das Gesicht gotisch-holzgeschnitzt, momentan meinte ich den Schädel darunter zu sehen. Dann sitzt er mir gegenüber, und die Ausstrahlung ist wieder da.
»Rein sachlich«, sagt er, sei seine Mitwirkung in der SED viel einflussreicher gewesen und belaste ihn viel mehr als die Mitarbeit bei der Staatssicherheit, zu der er sich 1976 oder 1977, er entsinnt sich nicht genau, nach Rückkehr aus der SU schriftlich verpflichtet hat. Er hatte so etwas wie Gutachten über Ausländer abzugeben, die Studienaufenthalte in der DDR absolvierten. Er habe nie jemandem geschadet, auch niemals über andere Personen aus seiner Umgebung berichtet, nie etwas gegen sein Gewissen getan, sei übrigens auch nie dazu angehalten worden. In den letzten Jahren habe er nur mehr seine eigene Sicht der Dinge mitgeteilt in Gestalt seiner Artikeltexte oder Redemanuskripte, die er – nachträglich – zur Kenntnis gab.
Die offizielle DDR existierte